Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 749

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/749

Es sind kaum zehn Tage, wie Leutnant Schmidt bei einem unerwarteten Anlaß mit einem Schlag zum geliebten populären Volkstribun wurde. Es war dies bezeichnenderweise der Tag des Begräbnisses der Opfer des letzten zaristischen Verfassungsmanifestes.[1]

Am 20. Oktober fand in Sewastopol eine außergewöhnliche Beerdigung statt, an der die Bevölkerung der ganzen Ortschaft teilnahm. Beerdigt wurden die friedlichen Bewohner, die wegen der von ihnen in der Nacht der Bekanntmachung des Zarenmanifests am Gefängnisgebäude veranstalteten friedlichen Kundgebung von den Truppen erschossen worden waren. Die Ordnung bei dem Begräbnisse war trotz der Zehntausende versammelten Volks musterhaft. Militär und Polizei war auf die energische Verwendung der Stadtverordneten hier nicht erschienen. Nachdem die Getöteten der Erde übergeben worden waren und der Bürgermeister und andere vortreffliche Reden gehalten hatten, trat Marineleutnant Schmidt an das Grab. Sein Erscheinen rief die gesteigerte Aufmerksamkeit der in dichter Masse um die benachbarten Hügel gescharten vieltausendköpfigen Menge hervor. Schmidt hatte sich in diesen wenigen Tagen der „Freiheit“ schon als zu großen Hoffnungen berechtigender politischer Agitator und hervorragender Redner erwiesen. Ohne Stadtverordneter zu sein, war er vom Bürgermeister eingeladen worden, an den Sitzungen teilzunehmen, und seine beratende Stimme hatte ihm in kurzer Zeit in der Stadt Popularität verschafft. Schmidt hatte eine rege Wirksamkeit in diesen Tagen entfaltet; er war der erste Initiator der politischen Meetings gewesen, die vor dem Manifeste von der Intelligenz veranstaltet wurden. Als sich Grabesstille eingestellt hatte, begann dieser von aufreibender, unermüdlicher Agitation erschöpfte Redner mit leiser aber von tiefem Glauben bewegter Stimme:

„Am Grabe geziemt es sich, nur Gebete abzuhalten, aber dem Gebete gleiche das Wort der Liebe und des heiligen Schwurs, den ich hier mit Euch ablegen will. Als Freude über die aufsteigende Sonne der Freiheit die Seelen dieser Entschlafenen erfüllte, an deren Grabe wir stehen, da war ihr nächster Drang, so schnell wie möglich zu denen zu eilen, die im Gefängnis schmachten, die für die Freiheit gekämpft hatten, und nun in der Stunde des allgemeinen großen Jubels dieses höchsten Gutes beraubt waren. Die Freudenbotschaft mit sich nehmend, beeilten sie sich, sie den Gefangenen mitzuteilen. Sie baten sie freizulassen und wurden dafür getötet. Sie wollten den anderen das höchste Gut des Lebens – die Freiheit – zuteil werden lassen und wurden dafür selbst des Lebens beraubt… Schreckliches, unerhörtes Verbrechen! Großes, nie gut zu machendes Leid! Jetzt blicken ihre Seelen auf uns nieder und fragen stumm: ‚Was werdet Ihr mit diesem Gut tun, dessen wir für immer beraubt sind? Wie werdet Ihr die Freiheit ausnützen? Könnt Ihr uns versprechen, daß wir die letzten Opfer der Willkür gewesen sind?‘ Und wir müssen die ruhelosen Seelen der Entschlafenen beruhigen, wir müssen es ihnen schwören. Ich schwöre ihnen“, tönte lauter seine Stimme, „daß wir niemals irgendwem auch nur eine Handbreit unserer eroberten Menschen-

Nächste Seite »



[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.