Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 597

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bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit die ernste Frage stellt: Was ist unsere Aufgabe und wie erfüllen wir sie, soweit es die verfügbaren Kräfte und Mittel gestatten?

Zweierlei Art sind vornehmlich unsere Aufgaben: neue Scharen unserem Banner zuzuführen und die Herangezogenen zu Klassenkämpfern zu machen, die in den unser harrenden schweren Kämpfen ihren Mann stehen, fest und sicher auf dem Boden der Marxschen Theorie. Die zweite Aufgabe ist fast noch schwieriger als die erste. Die Trostlosigkeit unserer politischen Zustände in Deutschland, das schwere Bleigewicht feudalen Einflusses, den das neue deutsche Reich trotz seiner schnell zunehmenden Industrialisierung mit sich schleppt, die zunehmende Last eines auf die Spitze getriebenen Militarismus und einer Welt- und Flottenpolitik, die uns ungeheure Opfer an Blut und Geld für wertlose koloniale Wüsteneien aufgeladen hat, dazu das Fehlen einer großen, entschiedene liberal-demokratische Grundsätze verfechtenden Partei: Alle diese Faktoren haben selbst in bürgerlichen Kreisen eine allgemeine Unzufriedenheit mit unseren politischen Zuständen erzeugt, die der werbenden Agitation unserer Presse ein prächtiges Rekrutierungsfeld bietet. Tatsächlich ist denn auch, wie nicht nur die Wahlstatistik, sondern auch die Zunahme der Abonnentenzahl unserer Parteipresse lehrt, unsere Anhängerschaft mächtig in die Breite gewachsen. Doch dieser Ausdehnung entspricht nicht, wie alle Einsichtigen anerkennen, die theoretische Vertiefung der Partei. Den neugeworbenen Anhängern haften meist noch starke Überbleibsel ihrer früheren Auffassung an und die Anforderungen, die, sobald sie in unsere Reihen eintreten, an ihre Mitarbeit gestellt werden, nehmen sie derartig in Beschlag, daß ihnen für die politische Arbeit an sich selbst, für das Eindringen in die sozialistische Anschauungs- und Begriffswelt wenig Zeit bleibt.

Diesem Mangel an theoretischer Vertiefung abzuhelfen, die neugeworbenen Anhänger zu guten, sich als Teil des sozialdemokratischen Proletariats fühlenden Klassenkämpfern zu machen, sie die politischen Tagesereignisse vom proletarischen Klassenstandpunkt betrachten und verstehen zu lernen, das soll unsere Hauptaufgabe sein. Die Einführung in theoretische Feinheiten, die Fortbildung der uns von unseren großen Meistern hinterlassenen wissenschaftlichen Lehren kann allerdings nicht Aufgabe einer Tageszeitung sein, die nach allen Seiten den Kampf führen, die Stellung der Gegner angreifen und die eigene verteidigen muß, die ferner über die täglich auftauchenden neuen Tagesereignisse der verschiedensten Art zu berichten hat. Diese Aufgabe gehört zum Ressort unserer wissenschaftlichen Wochenschrift, der „Neuen Zeit“. Wohl aber werden wir unser Augenmerk darauf richten, häufiger als bisher Leitartikel zu bringen, die nicht nur lediglich referieren, sondern in dem sie uns die jeweilige politische Situation und die auftauchenden Fragen in ihrer geschichtlich-ökonomischen Bedingtheit und Bedeutung zeigen, sich als ein Stück angewandter Theorie darstellen. Eine besondere Berücksichtigung soll dabei die revolutionäre Bewegung Rußlands finden.

Deshalb wird jedoch die rein theoretische Aufklärung keineswegs vernachlässigt werden. Vornehmlich soll, sobald die neue Redaktion sich eingearbeitet hat, die frühere

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