Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 460

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Und es geht darüber sogar noch hinaus. Unsere Partei legt bei der Propagierung ihres Wahlprogramms sehr wenig Wert auf den Punkt, in dem die Religion zur Privatsache erklärt wird;[1] sie fordert lediglich die Abschaffung jedweder öffentlichen Gelder für kirchliche und religiöse Zwecke. Unsere Abgeordneten lehnen in den Parlamenten jegliche Vergabe von Geldern für religiöse Ausgaben ab, doch wird diese Frage weder in Versammlungen noch in der Presse noch in den Parlamenten zum Gegenstand einer speziellen Propaganda gemacht.

Die deutsche Sozialdemokratie übt nicht nur gegenüber religiösen Überzeugungen, sondern auch bei politischen Fragen, die die Religion betreffen, eine deutliche Zurückhaltung – ebenso wie sie sich bei pro-republikanischer Propaganda zurückhält, übrigens ohne daß das den republikanischen Gefühlen, die jeder Sozialist empfindet, schadet.

Sich gegenüber dem Klerikalismus eine solche Taktik in Frankreich vorzustellen, ist unmöglich. Die Situation in den beiden Ländern ist vollkommen verschieden. In Deutschland ist es die protestantische Kirche, die über entscheidenden Einfluß verfügt, in Frankreich ist es die katholische Kirche. Zweifellos darf man letztere auch in Deutschland nicht aus dem Auge verlieren, doch ist sie hier zweitrangig; bis vor zehn Jahren wurde sie sogar noch unterdrückt. Bismarcks Kulturkampf mußte geradezu zwangsläufig zu einer Art Bündnis zwischen Sozialisten und Katholiken führen, denn aus denselben reaktionären Gründen wurden zur gleichen Zeit die Sozialisten mittels des Sozialistengesetzes[2] bekämpft.

Heute ist allerdings das Gegenteil der Fall: Die Ultramontanen[3] sind an der Macht; sie haben sie allerdings nicht als Kirche, sondern als politische Partei errungen. Das gestattet der Sozialdemokratie, die Ultramontanen als parlamentarische Vertreter der Schutzzollpolitik, des Militarismus, der Flottenaufrüstung und des Weltmachtstrebens anzugreifen und nicht als intellektuelle Repräsentanten eines besonderen Glaubens.

Der grundlegende Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich ergibt sich jedoch aus der politischen Form. So reaktionär der Einfluß des Klerus auf das öffentliche Leben auch immer ist, in seinem Gewicht unterscheidet er sich beträchtlich, je nachdem ob er sich in einer Monarchie oder in einer Republik entfaltet.

In einer Monarchie wird die Kirche ganz von allein monarchistisch. Da sie ohnehin die autoritäre Doktrin des Staates teilt, fügt sie sich harmonisch ein; sie ist einfach

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[1] Im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von Erfurt 1891 heißt es unter Punkt 6: „Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.“ In: Parteitagsprotokoll Erfurt 1891, S. 5.

[2] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag angenommene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündigung in Kraft.

[3] Gemeint ist die Zentrumspartei.