Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 634

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/634

eine, personifiziert in Eduard Bernstein, dem eifrigen Propagandisten des politischen demonstrativen Massenstreiks, die andere in Dr. Friedeberg. Bernstein sieht im politischen Massenstreik das Mittel zur Erkämpfung politischer Rechte und Abwehr gegen etwaigen Raub solcher durch die herrschenden Klassen. Die entgegen gesetzte Auffassung hat ihren Sitz in den Gewerkschaften und ist auf dem Kölner Kongreß[1] zum Ausdruck gekommen, nämlich: daß der Generalstreik etwas für die Arbeiterbewegung sehr gefährliches, verderbliches sei.

So sehr es nun scheint, als ob sich die beiden Auffassungen ausschlössen, so unrichtig wäre diese Annahme; sie haben vielmehr beide ein und dieselbe Grundlage, von der sie ausgehen, die anarchistische Anschauung, die die Dinge in der Luft hängend betrachtet. Nach der anarchistischen Anschauung kann man einen Generalstreik – der überhaupt das Allheilmittel der Anarchisten ist – jederzeit machen oder beenden, oder ablehnen, ganz wie es die Arbeiter wollen. Nach dieser Auffassung ist der Massenstreik kein Produkt geschichtlicher Entwicklung und Notwendigkeit, sondern ein Mittel, das man zu jeder Zeit beliebig anwenden oder lassen kann. Dieselbe Logik kommt bei den Gewerkschaften und Führern zum Ausdruck, wenn sie erklären, wir wollen den Generalstreik überhaupt nicht, und meinen, sie hätten ihn mit einer zehnzeiligen Resolution aus der Welt geschafft. Es ist dieselbe Auffassung wie etwa die, daß die Taktik, das heißt die Mittel, die im Klassenkampf angewendet werden, mit der Theorie oder den Zielen nicht zusammenhängen, so daß sie beliebig gewechselt oder angewendet werden können; es ist dies die ganze unhistorische bürgerliche Auffassung der Dinge. Unsere opportunistischen Genossen haben ja die gleiche Auffassung, wenn sie sagen, daß wohl die Prinzipien gehütet werden müßten, aber die Taktik hätte sich nicht danach zu richten.

Eine völlig andere Auffassung der Dinge haben die marxistischen Sozialisten. Würde man einen solchen fragen, ob er für den Generalstreik sei, so bekäme man nicht wie von den Anarchisten ein Ja oder Nein, sondern der würde antworten, daß man erst die Verhältnisse kennenlernen müsse, ob diese ein solches Mittel als historische Notwendigkeit geböten. Die Einverleibung eines solchen Mittels in die Waffen des Klassenkampfes hängt also nicht von dem Wollen oder Nichtwollen der Menschen ab, sondern die Entwicklung der Verhältnisse zwingt es der Arbeiterschaft auf.

Wir gehen der höchsten Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen. Wir dürfen die Auslandspolitik nicht aus den Augen lassen. Der Russisch-Japanische Krieg[2] hat eine kolossale Verschiebung der Machtverhältnisse gebracht. Die junge

Nächste Seite »



[1] Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand in Köln vom 22. bis 27. Mai 1905 statt. In seiner Resolution heißt es: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongreß für undiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Kongreßprotokoll, Berlin o. J., S. 30.

[2] Im Russisch-Japanischen Krieg, den Japan im Januar 1904 begonnen hatte und der im September 1905 mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen endete, ging es um Einflußsphären und Vorherrschaft im Fernen Osten. Die Niederlage schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.