Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 766

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wurde beschlossen, fest zu bleiben, den Streik fortzusetzen und die Regierung zum Nachgeben zu zwingen. Zunächst soll erreicht werden, daß die verhafteten Delegierten sofort auf freien Fuß gesetzt werden. Die Ausständigen werden vom Streikkomitee unterstützt, sie können eventuell noch 20 Tage feiern, gleich ihren Moskauer Kollegen. Dieser Versammlung wohnten der Präsident des Rates der Arbeiterdeputierten, Vertreter verschiedener politischer Parteien sowie eine Deputation des Moskauer Post- und Telegraphenkongresses bei, die vom Grafen Witte nicht empfangen worden war. Die Versammlung beschloß ferner, am heutigen Sonntag nicht zur Gagenauszahlung zu erscheinen. Die Zahl der Streikenden beträgt allein in Petersburg jetzt 6000.

Inzwischen verbreitet sich allmählich auch der Eisenbahnerstreik. So besagen zwei telegraphische Meldungen: Kiew, 5. Dezember. Der telegraphische Verkehr funktioniert seit gestern. Den Dienst versehen zwei Beamte des Ruhestandes und zwei Mädchen. Dagegen ist der Eisenbahnverkehr auf den südwestlichen Eisenbahnen, und zwar auf den Linien Kiew, Odessa und Sewastopol vollständig eingestellt.

Haparanda, 4. Dezember. Dem „Swenska Telegrambyrau“ wird aus Tornea gemeldet, daß ein neuer Eisenbahnerausstand in Finnland aus Anlaß der Ernennung des Senats ausgebrochen ist. Der Streik erstreckt sich vorläufig bis Tavastehus, wird sich aber wahrscheinlich über das ganze Eisenbahnnetz verbreiten.

Die Revolution im Heere

Die Rebellion unter dem Militär breitet sich mittlerweile so gewaltig aus, daß die Nachrichten über „Meutereien“ einzelner Regimenter, über Verhaftungen und Metzeleien einander auf dem Fuße folgen. Dabei läßt sich die folgende logische Linie in der Entwicklung dieser Bewegung verfolgen: Den Anfang hatten die Marinemannschaften gemacht. Die gegen sie verwendeten Landtruppen haben bei der Niederwerfung ihrer Kameraden von der Flotte selbst Feuer gefangen. Während die Truppen sich noch im Großen und Ganzen gegen die Arbeiterdemonstrationen als Zarenknechte gebrauchen ließen, versagten sie zuerst im Ernst, als sie gegen die Marine gebraucht werden sollten. Jetzt rebellieren die Landtruppen selbst, und die Regierung muß nun zu ihrer Beruhigung Kosaken verwenden. Dabei wiederholt sich aber dasselbe Spiel. Die Kosaken, die sich gegen das Volk noch immer als blutdürstige Bestien bewährt haben, fangen an, zu versagen, wenn sie systematisch gegen Soldaten gebraucht werden sollen. So pflanzt sich das Feuer der Revolution folgerichtig von Schicht zu Schicht, von einem Pfeiler des Absolutismus zum anderen. Die scheinbar unlöslichen Aufgaben der Revolution werden wie von selbst durch ihren eigenen Fortgang gelöst. Selbstverständlich kommen dabei überall die von der Sozialdemokratie in zäher unermüdlicher Arbeit ausgestreuten Samen der Aufklärung zur Reife. Aber die inneren ehernen Gesetze der Revolution sind es, die plötzlich ganz neue Schichten, die noch gestern als undankbarer steinerner Boden erschienen, für diesen Samen aufnahmefähig und fruchtbar machen.

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