Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 767

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/767

Gegenwärtig ist die südrussische Stadt Kiew der Mittelpunkt einer gewaltigen militärischen Revolte. Unsere Leser wissen aus der gestrigen Nummer, daß über Kiew der Belagerungszustand verhängt wird. Der Grund hierfür liegt eben in einer Bewegung der Truppen. Die „Russische Korrespondenz“ erhält die folgende Schilderung der Vorgänge in Kiew: Am 1. Dezember 7 Uhr morgens begann eine Kompanie Pioniere in Kiew den Streik. Wie das ganze russische Volk forderten auch sie die absolute Freiheit, nicht nur auf dem Papier, sondern in Wirklichkeit. Von den Kasernen ausgehend zogen sie immer mehr Soldaten in den Streik. Einige Brigaden hielten sich zurück und vereinigten sich nicht mit ihnen. Um vier Uhr nachmittags zogen die Soldaten zu dem Hüttenwerke Kehivanek, dessen Arbeiter sozialdemokratisch organisiert sind, um ein allgemeines Meeting zu veranstalten. Die Brigade von Asor schoß auf die Kameraden, 30 Tote und eine Menge Verwundete. Am Morgen wollten Kosaken gegen die streikenden Soldaten kämpfen, aber als der Streikführer sagte, daß einige Soldaten verwundet seien, zogen sie sich zurück. General Draque richtete einige Worte an die streikenden Soldaten, die als Antwort die 35 Punkte der Streikforderungen vorlasen. Hauptsächlich forderten sie: Befreiung von der Reserve, Verringerung der Dienstdauer, höfliche Behandlung, Verbesserung der Nahrung und Kleidung, politische Konstituierende Versammlung. Darauf sangen sie die Marseillaise. Während der zwei Tage, an denen die Meetings stattfanden, herrschte Mangel an Nahrungsmitteln in den Kasernen. Die Soldaten zogen mit Musik durch die Straßen. Während der Nacht gab ihnen die Bevölkerung Nahrungsmittel, viele wurden verhaftet. Am 2. Dezember wurden alle Zeitungen bis auf das Kiewer Organ des „Schwarzen Hundert“[1] konfisziert. Das Revolutionskomitee verkündigte den Generalstreik, um gegen die Metzelei zu protestieren. In der täglichen Erwartung großer Ereignisse organisieren Arbeiter und Soldaten Meetings im Polytechnischen Institut. Am 3. fand die feierliche Beerdigung der getöteten Soldaten statt, die Brigade von Asor zerstreute die Menge. Die Stadt ist sehr beunruhigt. Morgen wird der Belagerungszustand proklamiert werden. Das Polytechnische Institut ist geschlossen und von Soldaten umgeben. Die Zeitungen erscheinen nicht.

Ferner liegen noch folgende Meldungen vor:

Krakau, 5. Dezember. Nach Meldungen aus Warschau weigerte sich dort das 46. Infanterie-Regiment, weitere Polizeidienste zu leisten.

Warschau, 5. Dezember. Unter der Garnison in Osowze ist eine Meuterei ausgebrochen. In Grodno wurden zahlreiche Meuterer des dortigen Artillerie-Regiments verhaftet. In Charkow meuterte Infanterie. Die Rekruten verweigerten den Fahneneid.

Der Militäraufruhr in Woronesh

Der „Tag“ [Den] bringt die folgende telegraphische Meldung: Woronesh, 2. Dezember. Das Militär- und Lokalgefängnis des Strafbataillons in der Vorstadt Pridatscha wurde

Nächste Seite »



[1] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.