Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 776

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Wie russische Blätter melden, steht die Wiedereröffnung der nach den Januarunruhen geschlossenen elf Abteilungen der von dem Priester Gapon organisierten Arbeitervereine und die Rückgabe der beschlagnahmten Summen bevor. Die Sozialdemokratie eröffnet bereits den Feldzug gegen den „Arbeiterverein“ und Gapon. Die Sozialrevolutionäre Partei[1] erklärt in einer Resolution, daß die von Struve und Gapon vorgeschlagenen Maßnahmen den Arbeitern nur Unheil bringen könnten.

Es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß die Regierung jetzt absichtlich die Gaponschen Vereine öffnet, um Konfusion in proletarischen Kreisen zu verbreiten. Der Eisenbahnerstreik rückt immer näher heran. Wie eine Lemberger Depesche aus Petersburg meldet, wurde in einer gestern abgehaltenen Versammlung von Eisenbahnbeamten beschlossen, daß falls der Zentralpostvorstand sämtliche Kündigungen nicht zurücknimmt, auch sie wieder in den Streik treten werden. – In Nikolajew ist der Generalstreik ausgebrochen.

Die Bauernunruhen dauern gleichfalls fort, wie auch die spärlichen Nachrichten, die noch aus Rußland eintreffen, beweisen. Eine „Laffan“[2]-Meldung besagt: Die im Gouvernement Pensa gelegene große Besitzung des Fürsten Narischkin, eines Schwiegersohnes des Grafen Witte[3], wurde von Bauern geplündert. Das Herrenhaus und die Gutsgebäude wurden zerstört.

Paris, 5. Dezember. Aus Petersburg meldet das „Journal“, daß augenblicklich insgesamt gegen 60000 Arbeiter streiken. In einer Ortsversammlung wurde beschlossen, den Streik unter allen Umständen fortzusetzen. Auf der Straße finden fortgesetzt Zusammenstöße statt.

Der Zarismus und das Ausland

Vorbei sind die schönen Zeiten des Aranjuez, wo Rußland als „das stärkste Bollwerk der internationalen Reaktion“ betrachtet wurde! Heute sperren sich bereits die kapitalistischen Staaten schleunig von Rußland ab, als vom gefährlichsten Herde der Revolution. Eine ganze Reihe von Telegrammen zeigen drastisch das grandiose Bild: das alte Zarenreich aufgehend in einem riesigen Flammenmeer der Revolution, abgeschnitten von der Welt, mit Entsetzen und Argwohn von den anderen „Mächten“ betrachtet! …

Washington, 5. Dezember. („Laffan“-Meldung.) Das Staatsdepartement hat seit zwei Tagen von der amerikanischen Botschaft keine Nachrichten erhalten.

Konstantinopel, 5. Dezember. (Meldung des Wiener k. k. Telegr.-Korresp.-Büros.) Infolge der Ereignisse in Odessa und Sewastopol und da, wie bei der „Potjomkin“-Affäre[4], ein Einlaufen revolutionärer Schiffe befürchtet wird, wurden für den Bos-

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[1] Die 1901/1902 entstandene Partei der Sozialisten-Revolutionäre (Sozialrevolutionäre) vertrat die Interessen des Kleinbauerntums und hatte die Beseitigung des Zarismus und eine demokratische Republik zum Ziel. Zu ihren Kampfmitteln gehörten terroristische Anschläge. Später spaltete sie sich in einen linken und rechten Flügel.

[2] Eine von William MacKay Laffan gegründete Nachrichtenagentur. Der 1848 in Dublin geborene und 1909 in New York verstorbene Laffan war Journalist und u. a. Herausgeber und Eigentümer von „The Sun“.

[3] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[4] Der Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ am 27. Juni 1905 war die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte. Siehe dazu Rosa Luxemburg: Leutnant Schmidt. In: GW, Bd. 6, S. 748 ff.; dies.: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 786; dies.: Die Wahrheit über Sewastopol. In: ebenda, S. 811 ff.