Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 586

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Die Versammlungsfreiheit – eingeschränkt!

Die Proklamation über die Versammlungsfreiheit, die angeblich den Volkswünschen in weitgehendstem Maße Rechnung tragen sollte, hat sich nicht nur als keine Erweiterung, sondern sogar als eine unverschämte Verschlechterung des gegenwärtigen Zustandes herausgestellt:

Der das Gesetz über öffentliche Versammlungen ergänzende kaiserliche Erlaß[1] enthält gegenüber den bestehenden Bestimmungen wesentliche Einschränkungen. Versammlungen müssen drei Tage vorher angemeldet und ihr Zweck muß im einzelnen angegeben werden. Es muß ein Vertreter der Regierung zugelassen werden, der das Recht hat, von dem Präsidenten Angabe des Namens jedes einzelnen Redners zu verlangen und die Versammlung zu schließen. Versammlungen unter freiem Himmel sind verboten. Wegen Übertretungen dieser Bestimmungen kann der Präsident der Versammlung mit Haft bis zu drei Monaten und mit 300 Rubel Geldstrafe bestraft werden; die übrigen Teilnehmer können mit Haft bis zu einem Monat und mit 100 Rubel Geldstrafe belegt werden.

Das Volk pfeift inzwischen freilich auf diese Bestimmungen. In Petersburg werden überall Meetings abgehalten. Gestern nahmen daran über 60000 Personen teil, ein anderer Bericht spricht sogar von 120000 Personen. Verschiedene anwesende Offiziere erklärten, die liberale Sache könne auf die Unterstützung von mindestens zwei Dritteln der Truppen rechnen. Sogar die Fähnriche der Reserve sind zusammengetreten, Protest gegen das bestehende Regierungssystem zu erheben, ebenso die Advokaten, Ingenieure, Schriftsteller, Bankbeamten usw. Das Revolutionskomitee hat eine Menge Revolver und Patronen erhalten, die es den Arbeitern zu billigem Preise verkauft; je 25 Patronen werden gratis abgegeben. Die elektrischen Werke „Helios“ streiken, so daß die halbe Stadt und viele Privatwohnungen ohne Beleuchtung geblieben sind. Die Preise der Nahrungsmittel steigen fortgesetzt. Der Stadtteil von Wassilewski-Ostrow ist ohne Wasser, das die Wasserwerke abgesperrt sind. Morgen werden keine Zeitungen erscheinen, da auch die Setzer wieder streiken.

Die Lage in Petersburg

Petersburg, 28. Oktober. Die Staatsbanken und die Reichsrentei sind militärisch besetzt. Beide wie auch die Privatbanken arbeiten heute noch. Der Verkehr vollzieht sich wie gewöhnlich. Die Börse ist besucht, doch werden wenig Geschäfte, ohne Angebot, abgewickelt. Die Finnländische Bahn ist unter militärischem Schutz wieder in Betrieb. Für das Ausland wird die einfache Korrespondenz vorläufig über Helsingfors, Äbo, Stockholm befördert. Abgesehen von zahlreichen Militärpatrouillen macht das Straßenbild in der inneren Stadt den gewöhnlichen Eindruck. An vielen Stellen sind Sanitätswachen und Verbandsstellen eingerichtet. Alle Apotheken haben sich den Ausständigen angeschlossen, der Verkauf von Arzneimitteln ist völlig eingestellt. Die Petersburger

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[1] Gemeint ist das Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905. Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe auch Rosa Luxemburg: Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.