Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 587

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Anwälte mit ihren Gehilfen wollten vereint mit den Arbeitermassen die Schließung des Bezirksgerichts erzwingen und dann in den Gerichtssälen Volksversammlungen abhalten. Die Anwälte durchzogen die Räume des Gerichts und zwangen die Beamten, sich zu entfernen und den Dienst einzustellen. Als nunmehr die Volksmassen in das Gericht zur Abhaltung von Versammlungen eindringen wollten, wurden sie von dem Militär und der Polizei auseinandergetrieben. Eine in der Sergjewskaja befindliche Apotheke, welche den Verkauf wieder eröffnet hatte, wurde geplündert und verwüstet.

London, 28. Oktober. (Bureau Laffan.[1]) Der Petersburger Korrespondent des „Daily Telegraph“ spricht in einem Telegramm die Überzeugung aus, noch vor nächsten Montag werde das Zarentum mit seinen reaktionären Kräften und seiner veralteten Regierungsform der geschichtlichen Vergangenheit angehören und Rußland werde seinen Platz unter den europäischen Verfassungsstaaten eingenommen haben. Nach einer von privater Seite in Petersburg kommenden „Times“-Meldung wird Wittes Ernennung zum Premierminister am heutigen Sonnabend unterzeichnet werden.[2] Wittes Kabinett würden liberale Führer angehören, die bisher keine Ämter innehatten. Auch General Trepow werde ein Ministerium übernehmen, doch würden der gegenwärtige Finanzminister Kokowzow und der gegenwärtige Unterrichtsminister Glasow ausscheiden.

Die Behörden werden höflich!

Der „Tag“ [Den] meldet aus Kiew: Seit Montag streiken die Beamten der Südwestbahnen. Das technische Personal hat sich nicht angeschlossen. Die Züge verkehren noch nach Odessa und Podwolotschiska, es sind dies jetzt die einzigen in ganz Rußland. Beunruhigende Depeschen werden verbreitet, die Bürgerschaft ist sehr eingeschüchtert. In der Universität finden Versammlungen von Studierenden, Beamten, Frauen und sonstigen unruhigen Elementen statt. Die Behörden treten mit beispielloser Höflichkeit und Zuvorkommenheit auf. Die Läden und Banken auf den Hauptstraßen sind geschlossen. Militär ist in der Stadt verteilt, die Bahnhöfe, die Reichsbank und die Zahlämter der Behörden werden militärisch bewacht, doch herrscht überall vollkommene Ruhe. Der jüngere Teil der Anwaltssubstitute und der Justizbeamten verlangt vom Gerichtspräsidenten die Einstellung jeder Justiztätigkeit.

Väterchen packt den Koffer

London, 28. Oktober. Aus Petersburg meldet der „Standard“, auf der Börse werde die Lage als so ernst betrachtet, daß daselbst auf Grund guter Informationen verlautete, ein Mitglied aus der Umgebung des Zaren habe Befehl gegeben, die kaiserliche Yacht unter Dampf zu halten und desgleichen mehrere Kriegsschiffe, welche die Yacht begleiten sollen, um für alle Fälle bereit zu sein, den Zaren und die kaiserliche Familie nach Deutschland zu bringen.

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[1] Eine von William MacKay Laffan gegründete Nachrichtenagentur. Der 1848 in Dublin geborene und 1909 in New York verstorbene Laffan war Journalist und u. a. Herausgeber und Eigentümer von „The Sun“.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.