Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 838

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nacht beginnen werde. Auch die hiesigen Feuerwehrleute sind gestern in den Ausstand getreten. Kavalleriepatrouillen durchziehen die Straßen. Die Handelsleute erklären, daß der Handel vollständig daniederliege.

Petersburg, 20. Dezember. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Wie aus Moskau gemeldet wird, sind seit heute Mittag die Angestellten aller dortigen Bahnen im Ausstande; alle Ausständigen sind bewaffnet. Der Generalgouverneur hat über die Stadt den Zustand des verstärkten Schutzes verhängt.

Jekaterinoslaw, 20. Dezember. Auf der Jekaterininskaja-Eisenbahn ist der Generalstreik proklamiert worden. Jeglicher Verkehr stockt.

Das „Berliner Tageblatt“ bringt die folgende Privatdepesche aus Petersburg: Da das hiesige Exekutivkomitee des Arbeiterkonseils [rats] von Moskau abhängig ist, so ist der Beginn des hiesigen Generalstreiks erst auf heute Mittag festgesetzt worden. Noch finden sich aus dem Lager der Freiheitsbewegung Stimmen, wie die des Professors Miljukow[1], welche den Arbeiterkonseil vor diesem Schritt warnen, bevor es zu spät ist. Denn Miljukow spricht offen die Befürchtung aus, der Streik werde scheitern, weil die Arbeiter streikmüde seien. Ebenso hat sich Peter Struve in einem gestern gehaltenen Vortrag offen über die Machtlosigkeit der Revolutionspartei geäußert und hervorgehoben, daß der Telegraphen- und Poststreik der Sache der Revolution mehr geschadet als genützt habe.

Die Unkenrufe der liberalen Herren werden natürlich keinen Einfluß auf die kämpfenden Proletariermassen haben. Der Stein ist im Rollen!

Der Rat der Arbeiterdeputierten hat sein Blatt herausgegeben, in welchem er zum sofortigen Kampf gegen die Regierung auffordert und erklärt, daß dieser Kampf fest beschlossen sei und auch nicht der letzte sein werde. Weiter heißt es in dem Aufruf:

„Die Regierung aber wirft in diesen Kampf ihre letzten Faktoren, die Armee und die Finanzen, hinein. Die Würfel sind gefallen! Wir nehmen diesen Kampf auf, denn die Regierung Wittes[2] ist nicht imstande, ihr zweideutiges Spiel weiterzutreiben. Das Verbot von Zeitungen und die Arreste zeigen, was die Regierung beabsichtigt. Die Reaktion Wittes hat den Kampf vorzeitig heraufbeschworen. Auf ihn komme das Blut der Unschuldigen, das fließen muß! Wir erklären den Generalstreik! Kampf bis zum letzten Blutstropfen.“

Vorwärts (Berlin),

Nr. 299 vom 22. Dezember 1905.

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[1] Pawel Miljukow war der Führer der Konstitutionellen Demokratischen Partei (KD), umgangssprachlich Kadetten genannt, einer liberalen Partei, die für eine konstitutionelle Monarchie bzw. später für die Republik eintrat. Ihr gehörten progressive Gutsbesitzer, Vertreter des Mittelbürgertums und der bürgerlichen Intelligenz an.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.