Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 772

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beite auf einen Seekrieg hin.[1] Die Gegensätze zwischen den Mächten seien gewachsen. Und die Rückseite der Medaille? Vermehrung des Heeres, der Flotte, neue Zölle, neue Steuern, neue Auspowerung der Massen: neue Verschärfung der inneren Gegensätze der Klassen sowohl in Deutschland wie in allen anderen Staaten! Ein neuer Faktor komme hinzu, der gewaltigen Einfluß haben müsse, das revolutionierte Rußland. Schon jetzt habe sich die Wirkung auf die sozialen Kämpfe in anderen Ländern gezeigt. Werfe man nur einen Blick auf den österreichischen Wahlrechtskampf[2] und auf den in Sachsen.[3] Das seien die Funken, die aus dem großen Flammenmeer im Osten herübergesprungen seien. Man müßte geradezu mit polizeiwidriger Dummheit, oder richtiger: mit polizeilicher Blindheit geschlagen sein, um nicht zu begreifen, daß dieses Hinüberspringen der Funken von Tag zu Tag zunehmen müsse.

Auf die russische Revolution eingehend, legte Rednerin dar, daß beim heutigen Stande der Dinge die Revolution in Rußland der Form nach nur ein befreites, demokratisiertes bürgerliches Rußland schaffen könne. In Rußland stehe an der Spitze des Proletariats unsere Bruderpartei, die Sozialdemokratie. Das neue Rußland werde im Innern die Glutmasse des klassenbewußten Proletariats tragen. Neue Konflikte würden entstehen, und es würden die Versuche folgen, das kapitalistische Joch abzuwerfen. Das übrige Europa werden die Wirkungen zu spüren bekommen. Die russische Revolution sei nicht bloß eine Etappe für das russische Volk, sondern ein Merkstein in der Weltgeschichte. Sie sei ein Prolog für andere Revolutionen, die sich entwickeln müßten, solche, die keinen anderen Ausgang nähmen als die vielgeschmähte, einst verlachte Diktatur des Proletariats. – Rednerin wolle nicht etwa sich auf vages Prophezeien einlassen. Was sie hier sage, seien nur ganz nüchterne Schlußfolgerungen aus kühler Betrachtung sowohl der russischen Revolution als des internationalen Zusammenhanges der Klassenkämpfe in allen andern Ländern. Wie sei es nun mit dem politischen Massenstreik bei uns? Aus der aufgezeigten Entwicklungslinie der Weltpolitik der letzten 10 Jahre und aus der Entwicklung der russischen Revolution des letzten Jahres sei der Schluß zu ziehen, daß die Klassengegensätze in allen kapitalistischen Ländern sich ungeheuer verschärfen würden, und daß die Arbeitermasse nicht mehr in der Lage sein werde, sich die Klassenherrschaft mit ihrer ganzen Schmach und ihrem ganzen Elend wie jetzt, ruhig gefallen zu lassen, sondern daß wir stürmische Auseinandersetzungen und direkte Kämpfe mit den herrschenden Klassen zu gewärtigen hätten. Nun, jede Arbeiterklasse, die sich zu einer größeren gemeinsamen Aktion im Kampfe entschließe, müsse schon dazu aus der Werkstatt, der Fabrik, der Grube heraustreten, aus der Sklaverei an die Oberfläche. Für sie sei so ganz von selbst der

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[1] Am 14. November 1897 hatte Deutschland das Gebiet von Kiautschou annektiert. In einem Abkommen vom 6. März 1898 war die chinesische Regierung gezwungen worden, die Bucht von Kiautschou auf 99 Jahre an das Deutsche Reich als Flottenstützpunkt zu verpachten und ihm das Hinterland Schantung zuzugestehen.

[2] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet.

[3] In Sachsen fanden im November/Dezember 1905 Kämpfe mit Zehntausenden von Teilnehmern gegen das Dreiklassenwahlrecht, für ein demokratisches Landtagswahlrecht statt, bei denen es in Dresden zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei kam.