Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 362

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Wahlbewegungen und Parlamente, politische Kundgebungen und Veröffentlichungen der Presse sind, das ist in Rußland, wo es kein Wahlrecht gibt, wo jede Straßendemonstration von Kosaken niedergeknüttelt wird und verhaftete Studenten mit der Knute bearbeitet werden, wo man die politischen Gefangenen mit bestialischer Roheit zu Tode foltert und jeder Schrei der Unterdrückten wie in einem luftleeren Raume verhallt, das Attentat, der politische Mord. Und zwar richtet es sich im heutigen Rußland, wo der modernisierte Despotismus durch Polizei und Gendarmerie allgegenwärtig ist, gegen jedes Organ des Systems, am liebsten gegen eine weithin sichtbare Spitze mit umfassender Verantwortlichkeit. Das Attentat ist dort das einzige und letzte Mittel der politischen Demonstration und des politischen Bekenntnisses: Es terrorisiert die Machthaber im Zarenreiche, und die Kunde von einem Attentat gegen einen hohen Würdenträger läßt sich nicht unterdrücken und vertuschen wie so und so viele barbarisch niedergetretene und niedergeknutete öffentliche Kundgebungen. Der Mord aus unpersönlichen, idealen Motiven wird politisches Kampfmittel, und die Attentäter erringen sich das Bürgerrecht unter den Volksbefreiern. So hat das deutsche Bürgertum wohl ein halbes Jahrhundert die Tat des Studenten Sand[1] gefeiert und sein Andenken trotz aller Demagogenverfolgungen als das eines politischen Märtyrers hochgehalten; so haben einst die russischen Geschworenen Wera Sassulitsch[2] von der Anklage des Mordes freigesprochen, nachdem sie den Kommandanten Trepow, der ihren Bräutigam im Gefängnis hatte peitschen lassen, mit einer Kugel niedergestreckt. Unter dem System des Despotismus ist es denkbar, daß der politische Mord eine mehr oder weniger unentbehrliche gesellschaftliche Funktion bekommen kann.

Noch ist nicht amtlich festgestellt, welches Motiv dem Attentäter die Mordwaffe gegen den russischen Minister des Innern in die Hand gedrückt hat. Allein im Zusammenhang mit all den Vorgängen der letzten Wochen, mit der blutigen Niederwerfung der Studentenunruhen und der Arbeiterdemonstrationen,[3] mit den bestialischen Scheußlichkeiten gegen politische Gefangene, deren Verzweiflungsschreie sogar durch die russischen Gefängnismauern und die russischen Grenzkordons drangen, ist dieses Attentat auf den verantwortlichen Träger des ganzen Systems zweifellos als eine politische Verzweiflungstat zu verstehen. Wohl möglich, daß auch persönliche Motive mit unterlaufen, daß, wie im Fall Wera Sassulitsch, der Attentäter einen lieben Angehörigen rächen zu müssen glaubte; doch kann dies für die Beurteilung der Tat nicht ausschlaggebend sein. Dieser Mord richtet sich gegen den Massenmör

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[1] Gemeint ist die Ermordung des russischen Polizeispitzels August Friedrich Ferdinand von Kotzebue am 23. März 1819 durch den Studenten Karl Ludwig Sand in Mannheim.

[2] Die russische Revolutionärin Wera Iwanowna Sassulitsch (1849–1919) verübte am 5. Februar 1878 in St. Petersburg das Attentat auf den Petersburger Stadthauptmann General F. F. Trepow.

[3] Am 4. März 1901 hatte in St. Petersburg eine große Arbeiter- und Studentendemonstration gegen die reaktionäre Studentenpolitik der zaristischen Regierung stattgefunden. Polizei und Militär waren brutal gegen die Demonstranten vorgegangen.