Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 408

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/408

In einer Schrift des jungen Marx findet sich der Satz, das Dasein jeder Religion sei das Dasein eines Mangels.[1] Der Satz ist in höherem und weiterem Sinne wahr, als sein Verfasser meinte, da er ihn niederschrieb. Alle Religion ist entstanden aus einem Mangel entweder an Natur- oder an Gesellschaftswissenschaft. So unterscheidet man Naturreligionen, die sich mit den von Menschen unverstandenen Naturgewalten abzufinden suchen, und Gesellschaftsreligionen, die sich über die Wirkungen des noch unverstandenen gesellschaftlichen Produktionsprozesses mit höheren Mächten zu verständigen bemühen, etwa in der Weise, daß man, wenn der gesellschaftliche Produktionsprozeß von der unerschütterlichen Tatsache ausgeht, daß drei gleich drei und eins gleich eins sei, sich höherer Wesen getröstet, in denen gleichwohl drei gleich eins und eins gleich drei ist.

Dies ist, in die kürzeste und freilich auch trivialste Form gefaßt, Ursprung und Wesen aller Religionen. Sie entstehen und bestehen immer in einem Wahn. Aber sie sind kein willkürliches Wahngebilde, das sich der einzelne Mensch macht, sondern der Wahn, worin sie wurzeln, hängt mit dem historisch gegebenen Maße der Kulturentwicklung zusammen. Je weiter die Erkenntnis der Natur fortschreitet, um so mehr verfallen die Naturreligionen; überall wo man sich über das natürliche Wesen des Feuers klar ist, lacht man den Feueranbeter aus. Ganz ebenso geht es mit den Gesellschaftsreligionen. Je mehr der Mensch den gesellschaftlichen Produktionsprozeß kontrollieren und beherrschen lernt, um so weniger hat er das Bedürfnis, sich mit überirdischen Mächten durch Gebet und Opfer zu verständigen, um so mehr sterben die Gesellschaftsreligionen ab.

Danach ist klar, daß zwischen Proletariat und Religion ein tiefer, ein ganz unversöhnlicher Widerspruch besteht. Alle Hoffnungen der Arbeiterklasse auf ihre Erlösung beruhen auf der Erkenntnis, auf der Kontrolle, auf der Beherrschung des kapitalistischen Produktionsprozesses. Je mehr die moderne Arbeiterklasse in ihre weltgeschichtliche Aufgabe hineinwächst, je reifer sie für deren Lösung wird, desto freier wird sie von der Religion. Wenn sie gleichwohl in ihr Programm den Satz aufgenommen hat: Erklärung der Religion zur Privatsache, so heißt dies erstens, daß der Staat nicht die religiösen Wahngebilde hegen soll, und zweitens, daß man den Einzelnen die Pflege dieser Wahngebilde nicht verwehren darf. Eine Schonung der Religion und ihrer Träger, wo sie vom Staate gehegt werden und sich aus Dankbarkeit nun auch zur Förderung politischer und sozialer Unterdrückungszwecke hergeben,

Nächste Seite »



[1] Siehe Karl Marx: Zur Judenfrage. In: MEW, Bd. 1, S. 352, wo es heißt: „Die Frage ist: Wie verhält sich die vollendete politische Emanzipation zur Religion? Finden wir selbst im Lande der vollendeten politischen Emanzipation nicht nur die Existenz, sondern die lebensfrische, die lebenskräftige Existenz der Religion, so ist der Beweis geführt, daß das Dasein der Religion der Vollendung des Staats nicht widerspricht. Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels ist, so kann die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staats selbst gesucht werden. Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit.“