Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 409

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ergibt sich daraus so wenig wie die Folgerung, daß der proletarische Emanzipationskampf ein beliebiger Tummelplatz für religiöse Spielereien sei.

Eben weil sich das klassenbewußte Proletariat über Ursprung und Wesen der Religion klar ist, weil es in der Religion den Schatten erblickt, der überall herrscht, wo das Licht der ökonomischen Erkenntnis noch nicht aufgegangen ist, eben deshalb verzichtet es darauf, den Schatten totzuschlagen, der niemals beseitigt werden kann, solange das Licht noch nicht leuchtet, aber der, wenn das Licht brennt, von selbst verschwindet. Je mehr die noch vom religiösen Wesen befangene Arbeiterklasse ökonomisch und politisch erleuchtet wird, um so gründlicher scheidet ihr religiöser Wahn, während der Kampf gegen diesen Wahn gänzlich wirkungslos bleibt, solange die von ihm Ergriffenen das innere Wesen des kapitalistischen Produktionsprozesses nicht verstehen, solange sie deshalb ein Spielball unkontrollierbarer Mächte zu sein glauben, mit denen man gut tue, sich auf freundlichen Fuß zu stellen. Besäße die Religion diese soziale Wurzel nicht, so wäre sie längst durch die bürgerliche Aufklärung mit Stumpf und Stil ausgerottet worden, und es ist in der Tat ein Rückschritt um 50 oder selbst 100 Jahre, wenn sich neuerdings neue Aufgüsse der aufklärerischen Traktätchen von Anno dazumal in der Parteiliteratur einschleichen.

Ebenso verwerflich ist es aber, wenn der Satz von der Religion als Privatsache dazu mißbraucht wird, wieder religiöse Bestrebungen in den proletarischen Emanzipationskampf einzuschmuggeln, von einem „religiösen Element“ im Sozialismus zu sprechen und was dergleichen mehr ist. Nein, der Sozialismus hat kein „religiöses Element“; der Befreiungskampf der modernen Arbeiterklasse ist das Gegengift gegen jede Religion, und deshalb soll er nicht mit religiösen Schönheitspflästerchen verziert werden, die wie alle Religion nur einen Mangel bekunden, nämlich einen Mangel an Verständnis für die unvergleichliche Größe und Hoheit eines Kampfes, der an heilender, stärkender und tröstender Kraft alle Religionen überragt, von denen die Geschichte zu erzählen weiß.

Uns erinnern die Bestrebungen, den Sozialismus religiös zu verschönern, immer an das derbe, aber wahre Wort Ludwig Feuerbachs: „So ist vor allem unheilbar die Venerie, die Lustseuche der modernen Dichter und Schöngeistler, welche, den Wert der Dinge nur nach ihrem poetischen Reize bemessend, so ehr- und schamlos sind, daß sie auch die als Illusion erkannte Illusion, weil sie schön und wohltätig sei, in Schutz nehmen, so wesen- und wahrheitslos, daß sie nicht einmal mehr fühlen, daß eine Illusion nur so lange schön ist, so lange sie für keine Illusion, sondern für Wahrheit gilt.“ So Ludwig Feuerbach schon vor 60 Jahren.[1]

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[1] Siehe Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Vorwort, 1. Aufl. Leipzig 1841, S. X, bzw. in: ders.: Gesammelte Werke, 2. durchgesehene Aufl., hrsg. von Werner Schuffenhauer, Bd. 5, Berlin 1984, S. 9, wo es heißt: „So ist vor Allem incurabel die Venerie, die Lustseuche der modernen Frömmler, Dichter und Schöngeistler, welche, den Werth der Dinge nur nach ihrem poetischen Reize bemessend, so ehr- und schamlos sind, daß sie selbst auch die als Illusion erkannte Illusion, weil sie schön und wohltäthig sei, in Schutz nehmen, so wesen- und wahrheitslos, daß sie nicht einmal mehr fühlen, daß eine Illusion nur so lange schön ist, so lange sie für keine Illusion, sondern für Wahrheit gilt.“