Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 685

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/685

aber hinsichtlich der faktischen Machthaber gebunden seien. „Nascha Shisn“ bestreitet, daß bisher eine polnische Partei die Abtrennung Polens von Rußland gefordert habe. „Nowoje Wremja“ [Neue Zeit] appelliert an die Besonnenheit und den Takt der Polen, am Vorabend der Einberufung der Reichsduma die Frage der russisch-polnischen Beziehungen nicht zuzuspitzen.

Verfassungsversprechungen und Säbeldiktatur

Petersburg, 14. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Gemäß der im Manifest vom 30. Oktober[1] von dem Kaiser ausgesprochenen Absicht, das Wahlrecht auch auf diejenigen Volksklassen auszudehnen, die desselben bis jetzt noch entbehren, arbeitet der Ministerrat gegenwärtig darauf bezügliche Bestimmungen aus, deren Veröffentlichung baldigst erfolgen soll, worauf die Reichsdumawahlen unverzüglich stattfinden werden.

Petersburg, 14. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Heute erfolgt die Veröffentlichung einer vom Kaiser bestätigten Dienstanweisung für die Generaladjutanten, die zur Wiederherstellung der Ordnung nach den Gouvernements Tschernigow, Saratow und Tambow gesandt werden. Diese Dienstanweisung verleiht den Entsandten das Oberkommando über die Truppen und Polizeimannschaften des betreffenden Gouvernements, unterstellt ihnen alle Regierungs- und Kommunalbehörden mit Ausnahme der Gerichts- und Kontrollbehörden und verleiht ihnen das Recht, alle für die öffentliche Ruhe gefährlich erscheinenden Personen verhaften zu lassen, Handels- und Industrieunternehmen zu schließen, Zeitungen zu unterdrücken und obligatorische Verfügungen zur Wahrung der öffentlichen Ordnung zu erlassen.

Standrecht in Kronstadt?

Aus Petersburg wird dem „Tag“ [Den] gemeldet: Die Untersuchung der Kronstädter Revolten nähert sich ihrem Ende. Die Helden dieses Dramas sollen erschossen werden – doch aus allen Schichten der Gesellschaft erheben sich Stimmen, die vor der Ausführung dieser Todesurteile warnen, die in so furchtbarer Zeit der Gärung unglaubliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Zunächst will die Geistlichkeit mit dem vielgenannten Priester und Schriftsteller Petrow sich an den Zaren um Milderung der Strafe für die Meuterer wenden, sodann tritt fast die gesamte Residenzpresse gegen die Verhängung von Todesurteilen auf, endlich sammelt die Einwohnerschaft von Kronstadt Unterschriften für eine im gleichen Sinne gehaltene Petition. Die Kronstädter Bürger hätten bis jetzt stets friedlich mit den Matrosen zusammengelebt. Alle diese Proteste sollen der Regierung beweisen, daß die Schuld der meuternden Matrosen geringer sei als die der Regierung, deren Indolenz jene unerträgliche Lage im Marinewesen geschaffen, die nun endlich zur Explosion geführt habe.

Nächste Seite »



[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.