Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 683

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hegt, ob man bei einem Massenstreik die Massen im Zügel halten kann, der begeht eine Majestätsbeleidigung an den Arbeitermassen. In Frankreich, in Deutschland, in Rußland, wo die Massen auf Kommando auf dem Platze des politischen Lebens stritten, da hebt sich das moralische Niveau der Bevölkerung in erster Linie, da wird erst die wahre Sittlichkeit zur Wahrheit. Das ist der richtige Gedankengang eines Staatsanwaltes, den Frohme da ausgesprochen hat. Wer wird dafür sorgen, daß die Massen nicht verhungern bei einem Massenstreik. Ich muß wiederholt nach Rußland verweisen, um beweisen zu können, wie die Massen zu hungern verstehen, wenn es sich darum handelt, Menschenrechte zu erringen. Ich hatte oft Gelegenheit, grade das Schicksal der Arbeiterklassen meines engeren Vaterlandes in Russisch-Polen zu beobachten. Durch meine Zusammengehörigkeit mit der polnischen Sozialdemokratie erhielt ich Berichte aus Rußland, die mit Blut und Tränen geschrieben vom Kampfplatze stammen. Bereits schon im November 1904 herrschte in Warschau Hungersnot. Hunderttausende von Menschen hatten nichts zu beißen. Das Proletariat will hungern, es will nur seine Ziele erreichen. Ein Heine, ein Frohme, sie werden es nicht begreifen, sie haben keine Ahnung von den sozialen Kämpfen. Sie haben die Geschichte vergessen, sie haben vergessen die mit Blut und Tränen geschriebenen Revolutionen in Frankreich und Deutschland.

Die politischen und sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse in moderner Form sind keine Zivilprozesse, wo alle Kosten vom Rechtsanwalt vorgeschlagen werden. Nein, die revolutionäre Situation trägt ihre Ziele in sich. Man muß die Zeit verstehen, man muß die Situation verstehen, die uns die Geschichte entgegenführt, wo die Massen berufen sein werden, ihre ganze politische Reife, ihre ganze Kraft, auch ihre ganzen Heldentaten wieder einmal der Welt in Erinnerung zu rufen. Was wir zu tun haben, welchen Kämpfen, welchen Aufgaben uns der allgemeine Gang entgegenführt, ist doch, daß wir in uns selbst in der Masse den lebendigen Geist der Kampfesfreudigkeit wach halten, um immer schüren zu können, groß und mächtig die Flamme emporsteigen zu lassen. Was wir weiter zu tun haben, besteht darin, daß wir den Massen das sagen, was wir selber wissen. Unsere Kampfesweise besteht darin, daß wir die Geschichte der historischen Bewegung klarmachen und daß die geschichtliche Entwicklung uns Momente entgegenführt, wo die Massen selbst das Heft in Händen haben, dazu die Massen zu erziehen, muß unsere Aufgabe besonders sein. Mit offenen Augen in die Situation schauen. Hier heißt es, nichts Künstliches zu machen, nichts Künstliches herbeizuführen.

Genossen und Genossinnen, auch hier heißt es: „Bereit sein, ist alles!“ (Bravo!!!)

Staatsarchiv Hamburg,

Politische Polizei 331-3, V 328, Bd. 8.

Erstveröffentlichung durch Ulla Plener: Rosa Luxemburg. Die Russische Revolution 1905. Rede nach einem Spitzelbericht. In: UTOPIE kreativ, H. 171 (Januar 2005), S. 55 ff.

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