Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 682

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als ein gewaltiges Kampfesmittel in Rußland gesehen und erlebt haben, so bringt uns die kurze Situation dazu, daß es eine historische Notwendigkeit war, den Kampf in dieser Form auszufechten. Noch in keiner Revolution waren die Arbeiterklassen so ausschlaggebend wie jetzt in Rußland, wo der ganze Handel und Industrien lahmgelegt ist. Damals in der Revolution [1848] stand das Kleinbürgertum an der Spitze, heute in Rußland steht das Industrieproletariat an der Spitze der Revolution. Aus all den Gründen, die ich bereits angeführt habe, und wenn wir uns auf den Boden der Notwendigkeit stellen, so haben wir darin ohne weiteres die Antwort auf alles.

Tausende und drei Bedenken für diejenigen, die heute Gegner des Massenstreiks sind. Sie werden gewiß die Ausführungen des Genossen Frohme im „[Hamburger] Echo“ gelesen haben, sehr schwerwiegende Worte hat der Genosse dort in seinem Referate bei den Zimmerern ausgesprochen.[1] Er sagte, ihr habt drei Millionen Stimmen bei der Reichstagswahl erhalten, aber gehen diese drei Millionen Menschen alle mit in den Massenstreik. 1½ Millionen Arbeiter sind nur politisch und gewerkschaftlich organisiert, verbleiben die weiteren acht Millionen, die nicht organisiert sind. Eine solche Frage und Berechnung kann nur jemand anstellen, der von den Vorgängen in Rußland nicht einen blauen Dunst versteht.

In Rußland gab es vor der Revolution keine Gewerkschaftsorganisation. Man hat eben keinen Schimmer von der direkten Denkweise, wie Engels sagt; was hier und da Ursache ist usw. Die gewerkschaftlichen Organisationen können die Wirkung des Massenstreiks sein und umgekehrt. Wie stehen die englischen Gewerkschaften da, nicht als Organisationen zum frischen fröhlichen Kampfe bereit, nein, sie können die Massen nicht so leicht in Bewegung setzen. (Sehr richtig!) Diejenigen Gewerkschaftsführer, die in Köln der Arbeiterschaft zugerufen haben, sie könnten sich nicht auf den Massenstreik einlassen, des Kostenpunktes wegen, und die Arbeiterorganisationen hätten vor allem Ruhe nötig, um sich weiter ausbauen zu können, diese Führer fahren auf sehr bedenklichem Wege, die deutsche Arbeiterschaft in allen ihren Hoffnungen niederzudrücken und in die Versumpfung zu bringen. (Sehr richtig!)

Man fragt, werden uns auch die unorganisierten Massen folgen, ja, wenn sie sich auf den Boden stellen, daß eine Massenstreikbewegung von heute in 14 Tagen ohne Vorstand vor sich gehen kann, wie aus einer Pistole geschossen, daß man einen Bußtag dazu bestimmt. Ich bin sicher, daß die Massen uns auslachen werden. Aber andererseits werden sie sich mit mir auf den Boden stellen, daß bei einer revolutionären Bewegung diese Massen uns folgen werden, weil wir die Veranlassung, die Situation zu der Revolution nicht schaffen, wir müssen diese Situation verstehen und auch ausnutzen. Dann wird gefragt, wie wollen wir diese Massen ernähren können und wie wollen wir sie im Zügel halten. Diesen Explosivstoff hat der Genosse Frohme gegen den Massenstreik in die Waage geworfen. Genossen, der Genosse, der da Bedenken

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[1] Laut Hamburger Echo Nr. 203 vom 30. August 1905 hatte Karl Frohme über das Thema „Generalstreik und politischer Massenstreik“ am 29. August 1905 in einer Mitgliederversammlung der Zahlstelle der Zimmerer referiert. Er lehnte den politischen Massenstreik als ein Mittel des Anarchismus strikt ab. – In einer Zuschrift von Adolph von Elm, Karl Frohme und Friedrich Lesche vom 23. November 1905 an das Hamburger Echo betrachten sie sich als diejenigen, die im Sinne der Jenaer Massenstreikresolution und der Mehrheitsauffassung in der Partei handeln, wenn sie die neue Richtung, wie sie die revolutionären Sozialdemokraten einschließlich Rosa Luxemburgs nennen, einer „für die Partei geradezu verderblichen Revolutionsromantik“ bezichtigen. Sie behaupten, die Linken suchten die Jenaer Massenstreikresolution dahin zu deuten, „als sei die Partei auf den politischen Massenstreik bereits derart festgelegt, daß man sich auf ihn allen Ernstes heute oder morgen schon einzurichten habe und jeden, der ihre Revolutionsromantik nicht mitmacht, als ‚Flaumacher‘, als Revisionist, als ‚Verhöhner des revolutionären Geistes‘ in der Partei, als ‚Auch-Sozialist‘ verdächtigt und ihn dadurch in der Wirksamkeit seiner Tätigkeit in der Arbeiterbewegung lahmzulegen sucht“. Sie unterstellen der neuen Richtung, insbesondere Rosa Luxemburg, die gewerkschaftliche Arbeit als „Sisyphusarbeit“ abzutun und die parlamentarische Arbeit zu entwerten. Siehe Hamburger Echo Nr. 275 vom 24. November 1905.