Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 681

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Blicken wir auf Österreich zunächst, wie elektrisierend die bloße Kunde von politischen Reformen auf die Österreicher gewirkt hat, wie es dieses morsche alte Gebäude, diese baufällige Baracke des österreichischen Kaisers förmlich erschüttert hat.

Alle diese Momente der künftigen Entwicklung zusammenfassend wird es so kommen, daß wir einer Periode von mehr oder weniger revolutionären Kämpfen entgegengehen, worin die russische Revolution nur ein Prolog sein wird. Wir müssen nach alledem, was uns in den letzten Tagen beschert worden ist, was in der auswärtigen Politik vor sich geht, zu der Erkenntnis gelangen, daß es mit dem alten Schlendrian, mit dem Ruhebedürfnis ein für alle Mal vorbei ist. Wir gehen einer Zeit entgegen, wo der historische Klepper einmal in einen frischen, fröhlichen Galopp übergeht. Wir sind die letzten, die dabei etwas zu verlieren haben; je frischer der Gang, um so schneller werden wir unser Ziel erreichen. Es bleibt bittere Wahrheit, was Marx und Engels im Jahre 1848 sagten: Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten, nur zu gewinnen hat es die ganze Welt.

Ein politischer Beobachter muß sich umschauen, um die kommende Entwicklung kennen zu lernen, er muß sie kennen, damit er den Faden in der Hand hat, wonach er sich zu richten hat, in welcher Form, in welcher Veranlassung der Generalstreik anzuwenden ist, kann man vorher nicht sagen. Ich könnte den Massenstreik als Abwehrmittel gegen die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts zum Reichstag prophezeien. Ich stehe auch hier wieder auf dem historischen Boden, als ich mir sage, die allgemeine revolutionäre Situation kann damit beitragen, den Generalstreik als Abwehrmittel zu gebrauchen. Ob die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts zu einem solchen Massenstreik Anlaß geben wird, das kann ich nicht, das vermag niemand zu sagen.

Aber auch durch andere Anlässe kann man den Volkszorn hervorrufen. Wenn man, wie in ausländischen Blättern zu lesen ist, von einer gewissen Stelle die Plötzlichkeit bis zu einer solchen Unverantwortlichkeit steigern sollte, das Volk zum Äußersten zu provozieren, indem man hinterpommersche Grenadiere gebraucht, um die russische Revolution niederzuschlagen, dann glaube ich wohl, daß die Genossen mit einem Massenstreik antworten müssen, der zwar unser Blut verspritzt, um unsere russischen und polnischen Brüder zu schützen.

Ich habe diese Beispiele extra angeführt, damit sie sich klar darüber werden können, in welchem Zusammenhang man den Generalstreik anwenden könnte. Wenn wir immer mehr verschärften und politischen Kämpfen entgegengehen, so müssen wir bedenken – ich verweise jetzt wieder nach Rußland –, daß die Industriearbeiter, überhaupt die Arbeiterklasse, bisher in keinem direkten revolutionären Kampf eine Rolle gespielt haben. Wären ein Bernstein und Friedeberg zur rechten Zeit in Rußland gewesen, dann würden die russischen Arbeiter eine andere Rolle spielen. Ich kenne die russischen Parteiverhältnisse sehr genau, niemals vordem hat man über den Generalstreik diskutiert. Dort existierte kein Koalitionsrecht, kein Streikrecht, und die bewußten Führer der Bewegung haben nie daran gedacht. Wenn wir aber den Massenstreik

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