Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 400

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litische Partei kann sie dem Hader der Konfessionen mit derselben kühlen Gelassenheit gegenüberstehen, wie etwa dem Streit zwischen Homöopathen und Allöopathen. Die geistige Pazifizierung der letzten Fragen der christlichen Religion kann für die politische Arbeiterpartei eines bestimmten Landes oder einer bestimmten Gegend ein Gebot taktischer Klugheit, agitatorischer Opportunität werden, wenigstens so lange, als die inneren Zusammenhänge zwischen gewissen sittlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen mit den Voraussetzungen, die diese in der christlichen Weltanschauung haben, nicht weiter zum Bewußtsein kommen. Es kann einer geschickten Propaganda gelingen, die Massen politisch, ökonomisch zu interessieren, zu revolutionieren, ohne an ihrem religiösen Vorurteile zu rühren. Das ist der deutschen Sozialdemokratie tatsächlich in großem Maßstab und so gründlich gelungen, daß ab und zu ein Parteigenosse aufsteht und das Kunststück versucht, Sozialismus und Christentum innerlich zu versöhnen, geistig auszugleichen. Allein der internationale Sozialismus als Weltanschauung ist ein geistig so konzentriertes Gedankengebäude, daß jeder Versuch, ihn mit irgendeiner positiven Religion oder Philosophie in Harmonie zu bringen, nur auf eine Lockerung seiner straff gespannten Gedankenreihen hinauslaufen kann.

Was will überhaupt jede der vielen positiven Weltanschauungen, die die Welt und den Sinn des Lebens aus einem religiösen oder philosophischen Realprinzip erklären wollen? Sie alle geben ein metaphysisches Prinzip, eine hinter der Erscheinung liegende, übernatürliche Hypothese, mit der sie die Welt der Erscheinung zu begreifen suchen. Solange sie sich dabei bescheiden, mag es in jedem Sinne Geltung haben, daß die Freiheit, sich für dieses oder jenes Prinzip zu entscheiden, Privatsache und Gewissenssache jedes Einzelnen sein und bleiben muß. Anders aber, wenn sie sich vermessen, von diesem ihrem Realprinzip aus die Welt und das Leben nicht bloß für ihr eigenes metaphysisches Bedürfnis zu begreifen, sondern die Welt nach ihrem Dogma zu ordnen, eine gegebene Weltordnung damit zu begründen und zu rechtfertigen und die Forderung einer anderen Gesellschaftsordnung mit dem ganzen Rüstzeug einer dogmatischen Weltanschauung zu bekämpfen. Da wird der geistige Kampf gegen die Mächte der religiösen Tradition zur Pflicht, zu einer Notwendigkeit, der auf die Dauer um so weniger ausgewichen werden kann, als dieser Kampf um die Weltanschauung den Verkündern eines neuen Evangeliums tagtäglich angeboten und aufgedrängt wird. Und so sehen wir denn in den ersten Zeiten der sozialistischen Propaganda, wie die Kämpfer auf beiden Seiten die ganzen Reserven ihres geistigen Arsenals in langen Linien entwickeln und wie sie den grundsätzlichen Kampf um die Weltanschauung bis zur letzten Schlacke ausbrennen lassen. Erst in einer späteren Periode, als der politische, der wirtschaftliche Krieg immer kompliziertere Situationen schafft, tritt dieser rein geistige Kampf etwas in den Hindergrund, und die Arbeiterpartei eines großen Landes kann programmatisch in Sachen der Religion einen Waffenstillstand proklamieren. Allein in der Praxis der politischen Agitation brennt dieser

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