Der zweite Punkt des Erfurter Programms[1] verlangt ausdrücklich das Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrecht in Staat, Land und Gemeinde. Wie konnte also die Zugehörigkeit zu der deutschen Sozialdemokratie den polnischen Sozialisten als ein Hindernis in ihrem spezifisch nationalen Kampfe erscheinen? Es ist für jedermann klar, daß sie nicht verhindern konnte, auch im Rahmen der Gesamtpartei in ihrer Agitation, in ihrer Zeitung, in ihren Broschüren, in ihren Versammlungen so viel Gewicht auf das nationale Moment zu legen, als sie es nur für nötig halten bzw. mit ihren sozialistischen Überzeugungen vereinbaren können. So viel, was die Möglichkeit des Kampfes betrifft. – Aber das ist nicht alles.
Was den Erfolg betrifft, so liegt es ja auf flacher Hand, daß die polnischen Sozialisten als Glied der mächtigen Organisation des deutschen Proletariats viel eher auf die Verwirklichung auch ihrer spezifisch nationalen Forderungen rechnen können, als wenn sie, eine vereinzelte schwache Gruppe bildend, auf eigene Faust die nationale Unterdrückung bekämpfen. Gerade angesichts der äußersten Zurückgebliebenheit der sozialen Zustände und der fast ausschließlichen Herrschaft des Grundadels und des Pfaffentums in Preußisch-Polen wird eine gesonderte polnische sozialistische Partei für die nächste Zukunft auf die Rolle einer Quantité négligeable in dem sozialen Leben des Deutschen Reiches angewiesen sein, trotzdem sich die Zahl der Abonnenten der Berliner „Gazeta Robotnicza“ [Arbeiterzeitung] aus der wundervollen Wirkung dieser Sonderorganisation verdoppelt hat und die Zahl der von den polnischen Sozialisten abgegebenen Stimmen eine „schöne“ ist. Wollten also die polnischen Sozialisten wirklich auf reellem Boden stehen und den Kampf gegen die nationale Unterdrückung mit Erfolg führen, so hätten sie gerade im Rahmen der deutschen Sozialdemokratie verbleiben müssen, die für sie in allen ihren Bestrebungen eine mächtige Stütze war.
Was hatten also „der reelle Boden“ und „die Selbständigkeit“ mit der Sonderorganisation der polnischen Sozialisten zu tun? Was für reelle und selbständige Begriffe stecken hinter diesen Worten? Es sind offenbar keine Begriffe dahinter, es sind bloße Worte, denn „wo Begriffe fehlen – da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein“.[2]
Aber – argumentieren ferner die polnischen Sozialisten in Deutschland – wie sollen wir uns vor der gedachten verleumderischen Behauptung der Bourgeoisie schützen, solange wir in der deutschen Organisation bleiben?
Nun, kein „Grund“ spricht schlagender gegen den Schritt der polnischen Sozialisten als gerade dieser. Hier gilt das zutreffende Wort Bebels: Schimpft die Bourgeoisie
[1] Gemeint ist das Parteiprogramm der deutschen Sozialdemokratie, das auf dem Parteitag vom 14. bis 20. Oktober 1891 in Erfurt angenommen worden war.
[2] „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ Johann Wolfgang Goethe: Faust, Erster Teil. In: Goethe, Poetische Werke, Bd. 8, Berlin 1965, S. 210.