möglich sei. Dem entspricht das Gutachten, womit er die Übersendung des Dossiers begleitete. Zurlinden hofft, die übrigen Minister überzeugen zu können. Stimmt der Ministerrat wieder wie in der vorigen Woche für die Revision, so gibt Zurlinden seine Demission und Brisson übernimmt wahrscheinlich sofort das Kriegsportefeuille. Sollte jedoch, was nicht ausgeschlossen ist, die Solidarität des Ministeriums unterdessen erschüttert sein, so ist eine allgemeine Krisis unvermeidlich. Der „Temps“ hofft noch auf eine friedliche Entscheidung für die Revision. Die „Liberté“ sieht den Zusammenbruch der Regierung voraus. Die Bestrebungen, den Konflikt bis nach den Manövern zu verschieben, dürften scheitern. Drumont richtet einen offenen Brief an Brisson, in dem er die Berufung der Kammer verlangt. Andere Hetzblätter drohen Faure, falls er die Kammer nicht einberufe. Die boulangistischen[1] und antisemitischen Deputierten wollen, wenn ihre Bemühungen um die Einberufung der Kammern scheitern, sich als öffentlichen Wohlfahrtsausschuß konstituieren. Die Sozialisten in Paris hielten gestern drei große Versammlungen für die Revision ab.
Von anderer Seite wird gemeldet, daß das Ministerium, mit Ausnahme des Kriegsministers, einstimmig an der Revision festhalte. Am Sonnabend wird der Ministerrat wieder zusammentreten. Der Justizminister hat eine weitere Frist zur Prüfung der Dreyfus-Akten verlangt.
Wie die „Frankf[urter] Ztg.“ von zuverlässiger Seite erfährt, hat der jetzige französische Kriegsminister General Zurlinden schon im vorigen Jahre, während eines Besuches im Elsaß gegenüber Verwandten erklärt, er sei davon überzeugt, daß Dreyfus unschuldig ist.
Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),
Nr. 213 vom 14. September 1898.
[1] Boulangistische Abgeordnete waren wie der französische General Georges Boulanger Feinde der Republik. Der General versuchte 1899 erfolglos, eine Militärdiktatur zu errichten, und floh, als er scheiterte, nach Belgien.