Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 263

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wo es fünf sozialistische Organisationen gibt, die jede eine andere Schicht der proletarischen Bewegung und eine andere Phase der revolutionären Überlieferung vertreten. Sieht man von der Organisation ab, die sich marxistisch nennt, so scheint es mir, daß die vier anderen sich nur äußerst schwach durch diese Frage berührt fühlen werden, die bei den Deutschen bis in das Getriebe ihres praktischen Lebens hineindringt. Und wenn die Vereinigung Euerer sämtlichen Fraktionen, die bereits auf so gutem Wege ist, erstarken wird, so gewiß nicht auf Grund und infolge von Lehrformeln, sondern infolge von Bedingungen, die der Bewegung selbst innewohnen, und im Ergebnis der allgemeinen politischen Lage Frankreichs. Die Affäre (Labriola meint den Fall Dreyfus)[1] war schon lehrreich genug, sogar für die Politik des Sozialismus.

Worauf es ankommt (in bezug auf das Bernsteinsche Buch), das ist: Diskutieren, analysieren, kämpfen Schritt vor Schritt. Aber das alles setzt voraus, daß man im Interesse einer Partei, auf einem bekannten Terrain, gestützt auf bestimmte Überlieferungen der Erfahrung und der Tätigkeit, diskutiert und kämpft. Lesen Sie die Artikel, die das Buch in Deutschland hervorgerufen hat, – ich habe in diesem Augenblick die sehr lebhaften und sehr gründlichen Artikel von Rosa Luxemburg in der ‚Leipziger Volkszeitung‘ in der Hand – macht es nicht den Eindruck, daß es eine direkte und unmittelbare Reaktion eines lebendigen Organismus ist, der sich in dieser Reaktion selbst äußert? Man versteht dann, daß die wiederholte Behauptung der Grundsätze kein doktrinärer Eigensinn, sondern das Lebens selbst des Organismus ist, der, durch diese zu seinem Fleisch und Blut gewordenen Grundsätze am Leben erhalten, in ihnen seine Kriterien, seine leitenden Gesichtspunkte, seine Handlungsweise, mit einem Wort sein Dasein selbst verteidigt.

… Es gibt freilich Leute, die auf jedem Fleck bereit sind, von neuem über die Werttheorie, die Dialektik, den geschichtlichen Materialismus, den Klassenkampf, die Zusammenbruchshypothese, die Zukunft der Welt und den Zukunftsstaat zu diskutieren. Aber können wir uns denn wirklich jeden Tag eine ganze kritische Revision der gesamten Enzyklopädie aufzwingen lassen? Von diesem formalen Gesichtspunkt hat das Bernsteinsche Buch einen wichtigen Fehler, daß es zu enzyklopädisch ist. Hätte der Verfasser unmittelbar die Diskussion über die praktische Tätigkeit und die politische Aktion der Partei angeschnitten, angesichts der besonderen Bedingungen Deutschlands, über das wir alle Nichtdeutschen auch mangelhaft informiert sein können, so hätte er ein nützlicheres und nutzbareres oder zum Mindesten ein leichter diskutierbares Werk geliefert. Aber er hat ein ganzes Glaubensbekenntnis, ab imis fundamentis (vom Grunde aus), geschrieben, und so zwingt er diejenigen, die ihn bekämpfen wollen, ein ganzes Buch zu schreiben, was viel Zeit erfordert.

Was Italien anbetrifft, so können Sie sicher sein, daß seine kleine und bescheidene Sozialistische Partei (so muß ich sie angesichts der kolossalen deutschen Sozialdemo

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[1] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.