Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 264

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/264

kratie nennen) vielleicht durch verschiedene äußere Ursachen zermalmt werden kann, aber von selbst wird sie sich der Gefahr nicht aussetzen und wird nicht in die Versuchung kommen, sich in verschiedene Richtungen zu spalten. Dies ist Tatsache – und sie bedarf keiner Erklärung. Dieses Urteil ist um so gewichtiger, als ich mich für die sozialistische Bewegung aller Länder in gleichem Maße interessiere und keinen Anteil noch besonderes Verdienst daran habe, diese Partei dazu gemacht zu haben, was sie ist. Diese Partei wird keine Krise durchmachen, während sie jetzt um ihre Existenz selbst einen Verteidigungskampf führt. Es ist also sehr schwer, daß die theoretischen und politischen Kämpfe Deutschlands hier ein starkes Echo und einen nachhaltigen Widerhall finden.

Ich glaube fest, daß der Sozialismus in den romanischen Ländern noch ein gut Stück Utopie zu überwinden hat, und die gegenwärtige Diskussion wird für ihn nicht ohne Nutzen sein. Ich glaube desgleichen, daß der Sozialismus stets und überall von einfach-radikalen, unsicher-reformerischen und grob-revolutionären Elementen durchtränkt ist, und diese Diskussion wird eine neue Säuberung ermöglichen.

Welches Zusammentreffen! In einer der letzten Nummern jenes ‚Sozialdemokraten‘, der das denkwürdige Kampforgan der deutschen Partei unter der Herrschaft des Ausnahmegesetzes war – herausgegeben, wie Sie wissen, zuerst in Zürich und dann übertragen nach London – liest man: ‚Sollte die deutsche Sozialdemokratie sich je auf Unterhandlungen einlassen, der ‚Sozialdemokrat‘ würde wieder aufstehen, um zu protestieren.‘[1] Neun Jahre sind seitdem kaum ins Land gegangen, und der ‚Sozialdemokrat‘ – nicht jenes bescheidene Blättchen von so leichtem Papier, sondern eine ganze Legion großer Zeitungen – erhebt sich in Deutschland selbst zum Protest gegen den noch im Exil lebenden Bernstein, den tapferen und geschickten Redakteur des kampffrohen ‚Sozialdemokrat‘ von 1879 bis 1890! Wer von uns würde noch wagen, mit Sicherheit etwas über die Zukunft vorauszusagen, wenn das tägliche Leben uns solche Überraschungen bereitet?

In Wahrheit steckt hinter all diesem Diskussionslärm eine wichtige und wesentliche Frage. Glühende, lebhafte, hastige Hoffnungen, die man vor einigen Jahren hegte, diese Erwartungen mit zu deutlichen Einzelheiten und Umrissen, stoßen gegenwärtig

Nächste Seite »



[1] Das Zitat ist nicht zu belegen. In der letzten Nummer von „Der Sozialdemokrat“ vom 27. September 1890 schrieb allerdings sinngemäß Friedrich Engels: „An dem Tage, wo uns das gemeine Recht streitig gemacht wird, erscheint der ‚Sozialdemokrat‘ wieder. Die alte Maschinerie, in Reserve gehalten für diesen Fall, tritt wieder in Tätigkeit, verbessert, vermehrt, neu eingeölt.“ MEW, Bd. 22, S. 79. Labriola selbst, der unter dem Pseudonym X.y.o. am „Sozialdemokraten“ mitgearbeitet hatte, schrieb an die Redaktion: „Erlauben Sie, daß auch X.y.o. seinen traurigen Abschiedsgruß an den ‚Sozialdemokraten‘ sendet, indem er das Verschwinden der unerschrockenen Zeitung, die zwölf Jahre lang eine tapfere Schule des internationalen Sozialismus gewesen, innig bedauert. Hoch die deutsche Sozialdemokratie, die Vorkämpferin der neuen Revolution, die große Erzieherin der neuen Geschichte. Mit brüderlichen Grüßen und mit Hochachtung Ihr A. Labriola.“ Was uns großgemacht hat. In: Der Sozialdemokrat, Nr. 38 vom 20. September 1890.