Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 825

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nur 8861, alle Eisenbahnstationen und Bezirksverwaltungen mit eingerechnet, welche die einfache Korrespondenz annehmen und befördern. Während in den Vereinigten Staaten auf 887 Einwohner je eine Postanstalt entfällt, kommt in Rußland eine Postanstalt auf 10000 Einwohner! Infolgedessen ist der verhältnismäßig geringe Bestand der Post- und Telegraphenbeamten mit einer für ihre Kräfte übermäßigen Arbeit belastet. Der Arbeitstag der Beamten ist nicht begrenzt, und sie müssen je nachdem zwölf und mehr Stunden arbeiten. Noch schlimmer ist die Lage jener 19300 Briefträger und Postdiener, die jetzt die Träger der Streikbewegung geworden sind. Der Arbeitstag des Briefträgers dauert von sieben Uhr morgens bis acht Uhr abends, beinahe ohne Unterbrechung. Der Briefträger sieht vier- bis fünfmal täglich die einlaufende Post durch und trägt sie vier- bis fünfmal am Tage aus. Die Briefträgertasche, einen Sack mit Zeitungen und Zeitschriften auf dem Rücken, Briefe – all’ das wiegt manchmal zusammen mehr als ein Pud – d. h. mehr als vierzig Pfund.

Während die wirklichen Arbeiter im Post- und Telegraphenwesen lumpige Groschen an Gehalt bekommen und unter der unerträglichen Last der Arbeit zusammenbrechen, besonders während der Feiertage, wie Weihnachten, Ostern, Neujahr, das Zehnfache arbeiten, – sind die hohen und höchsten Beamten, die fast gar nichts zu tun haben, aufs beste versorgt. Der Abteilungschef bekommt z. B. 2800 Rubel (6000 M) jährlich, eine Amtswohnung oder Wohnungszuschuß, eine Unterstützung zu Weihnachten, eine Unterstützung zu Ostern, zweimal jährlich eine „Erholungs-Unterstützung“, ständige Unterstützungen für die Erziehung der Kinder usw. – kurz, Unterstützungen ohne Ende.

Die Bestimmung der Höhe der Pension, die Versetzung nach Sibirien mit erhöhtem Gehalt usw., all das liegt in den Händen und in dem freien Ermessen der höheren Bürokratie, und hier wird der größte Mißbrauch getrieben. Es ist niemand da, bei dem der kleine Beamte Schutz suchen könnte.

Lange ertrugen diese Parias der Bürokratie, die Unterbeamten der Post und Telegraphie, ihr Los geduldig. Endlich schlug aber auch für sie die Stunde der Befreiung. Die revolutionäre Bewegung des gesamten Proletariats hatte auch sie ergriffen. Dem Beispiele der sozialdemokratischen Arbeiterschaft folgend, griffen sie sofort zu dem ersten und unumgänglichen Werkzeuge der Befreiung – zur Organisation. Die Postbeamten verstanden, daß der Zusammenschluß der Ausgebeuteten die erste Bedingung einer Besserung ihrer Lage ist. Es bildete sich ein Allrussischer Verband der Post- und Telegraphenbeamten. Mit feuriger Begeisterung schlossen sich die so lange mit Füßen getretenen Sklaven des Staates dem Verbande an. Die Regierung ihrerseits begriff ebenso schnell, daß der organisierte Postbeamte ihrer Willkür entrissen ist und erklärte dem Verbande einen Kampf auf Tod und Leben. Die Postbeamten hoben den Handschuh auf und nun geht der Kampf bereits wochenlang um das Koalitionsrecht, das sich die einmal zu ihrer Menschenwürde erwachten Staatssklaven nicht mehr entreißen lassen.

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