Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 423

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Jedenfalls hat sich die russische Allerweltspolitik im ganzen in der Richtung bewegt, die in dem angeblichen Testament vorgeschrieben ist, und wenn Napoleon mit diesem Testament hat eine Warnung erteilen wollen, dann täten die Franzosen gut, sie auch heute zu beherzigen. Andere freilich auch.

Das Testament empfiehlt zunächst, Rußland im „Zustande nie endenden Kriegs“[1] zu erhalten, was pünktlichst befolgt wird; alsdann soll Rußland sich in „alles einmischen“,[2] was es auch niemals versäumt hat. Polen soll geteilt, die russischen Grenzen sollen an der Ostsee, gegen Konstantinopel und gegen Ostindien vorgeschoben werden; Dänemark soll durch die russische Freundschaft von Schweden getrennt werden. Russische Prinzen sollen deutsche Prinzessinnen heiraten und umgekehrt, damit der russische Einfluß vermehrt und Deutschland an Rußland gebunden wird. Österreich soll man Stücke der Türkei geben, damit man dessen Beistand hat, um Konstantinopel zu gewinnen; nachher kann man Österreich das Zugestandene wieder abnehmen.

Fast alles das ist genau so ausgeführt worden, wie es das Testament vorschreibt; die Teilung Polens ist erfolgt und Österreich hat Stücke der Türkei erhalten, deren Untergang nur noch eine Frage der Zeit ist.

Die Punkte 13 und 14 des merkwürdigen Aktenstücks nehmen sich aus, als habe man bei der Abfassung des Testaments den Dreibund und den Zweibund vorausgeahnt.[3] Nur, daß die „geniale“ Politik Bismarcks der russischen Diplomatie die Arbeit leichter gemacht hat, als in dem famosen Testament vorgesehen war. Denn der Zweibund sollte erst eintreten, „wenn Schweden zerstückt, Persien besiegt, Polen unterjocht, die Türken überwunden, das Schwarze und das Baltische Meer von russischen Schiffen bewacht sind“.[4] – Ganz so weit ist es noch nicht, wenn auch Polen zerstückt und Persien schon unterjocht ist. Aber Bismarck, der seinen aberwitzigen Haß gegen die Franzosen nicht zügeln konnte, ließ durch seine Gehässigkeiten die französische Bourgeoisie einen Überfall befürchten und trieb sie dem Kosakentum in die Arme. So kam der Zweibund[5] schon vor der Vernichtung der Türkei.

Das Testament sieht natürlich an Stelle der Republik Frankreich den „Hof von Versailles“ vor. Wenn die obigen Bedingungen erfüllt, dann „soll zuerst der Hof von Versailles, dann derjenige von Wien abgesondert und heimlich bearbeitet werden, mit Rußland die Herrschaft der Welt zu teilen. Wenn eine dieser beiden Mächte das An

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[1] Siehe „Europa: Wird es republikanisch oder kosakisch? Eine auf die Memoiren Napoleons, das Testament Peter des Großen und viele andre gewichtvolle Dokumente gestützte Abhandlung über die unserem Weltteil drohenden Gefahren und der Mittel zu deren Abwendung als Vorlage für einen europäischen Kongreß.“ Zweite veränderte u. vermehrte Ausgabe, Leipzig 1866, S. 14.

[2] Ebenda.

[3] Gemeint sind die militärischen Bündnisse zwischen den europäischen Mächten zu kolonial- bzw. weltpolitischen Zwecken, der französisch-russische Zweiverband von 1892, der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich und Italien seit 1882/83; und 1904 entstand schließlich zwischen Großbritannien und Frankreich die Entente cordiale, die sich 1907 mit Rußland zur Tripelentente erweiterte.

[4] Europa…, S. 15 f.

[5] Seit 1887 hatte sich aufgrund der französischen Anleihen, der russischen Aufträge für Frankreichs Industrie und der sich zuspitzenden internationalen Situation eine weitgehende Annäherung beider Länder vollzogen, die durch einen Konsultativpakt 1891 und eine Militärkonvention 1893 zu einem festen Bündnis wurde.