Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 424

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erbieten annimmt, so ist ihrem Ehrgeiz und ihrer Eigenliebe zu schmeicheln und die eine dazu zu benützen, die andere zu vernichten.“[1]

Dem Ehrgeiz und der Eigenliebe der französischen Bourgeoisie, dieser elenden Karikatur des alten französischen Republikanismus, ist bis zum Blödsinn geschmeichelt worden. Österreich, das dem Dreibund[2] angehört, hat seinen besonderen Vertrag mit Rußland; die Gruppierung ist also nach den Bestimmungen des Testaments erfolgt. Österreich ist in Italien durch Frankreich geschwächt worden und die beiden Mächte können nach Belieben gegeneinander ausgespielt werden.

Der brave Spießbürger Loubet spielt also in diesem Moment in St. Petersburg die Rolle des düpierten „Hofes von Versailles“.

Sogar der „Krieg mit zwei Fronten“ ist in dem Testament vorgesehen. Der Verfasser desselben denkt sich Österreich, resp. das Haus Habsburg als die herrschende Macht in Deutschland. Er meint zum Schlusse, Frankreich und Deutschland müßten gegeneinander gehetzt werden, um sich gegenseitig aufzureiben. „In diesem entscheidenden Augenblick soll Rußland mit seinen Truppen Deutschland überschwemmen.“[3]

Ist dann Deutschland besiegt, so kann das übrige Europa unterworfen werden.

Die europäischen Wandlungen haben sich natürlich nicht in absoluter Übereinstimmung, aber im Allgemeinen nach diesem Plane zur Unterwerfung Europas vollzogen; einzelne Details stimmen ganz auffallend mit den Sätzen des Testaments überein.

Es nimmt sich demgegenüber ganz reizend aus, wenn in diesem Moment der Präsident der französischen Republik in seinem Toast auf den Zaren die Fortschritte der russischen Armee preist und von Sympathien und höheren Interessen der beiden Völker spricht. Und vollendete Strohköpfigkeit spricht aus dem monumentalen Satze: „Diese gewaltige Macht ist für niemand eine Drohung!“

Nein, die russische Armee war noch für niemand eine Drohung! Und dieser politische Epicier repräsentiert einen Staat von 39 Millionen Menschen! In der Tat, wenn Europa die Wahl hat, republikanisch oder kosakisch zu werden – die „republikanische“ Bourgeoisie Frankreichs ist schon kosakisch.

Gustav Adolf von Schweden mahnte die europäischen Mächte, vor Rußland auf der Hut zu sein; Ludwig Kossuth tat das Gleiche, als die Russen 1849 gleich den alten Mongolenhorden verwüstend in Ungarn einbrachen; aber das Testament scheint doch vollstreckt werden zu sollen.

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[1] Europa…, S. 15.

[2] Der Dreibund war das zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien am 20. Mai 1882 abgeschlossene, erst 1883 bekannt gewordene und immer erneuerte, zuletzt 1912 verlängerte militärische Bündnis.

[3] Europa…, S. 16.