Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 836

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Die revolutionäre Erhebung in Livland

Mitau, den 15. Dezember 1905. (Eig. Ber.) Die Nachrichten über die von den hiesigen Revolutionären verübten „Greuel“, die geflissentlich von der reaktionären Presse ausgestreut werden, sind völlig erlogen. Es handelt sich um eine von der Sozialdemokratie geleitete ganz ruhige Generalstreikbewegung der hiesigen Arbeiterschaft. Nur auf einzelnen Dörfern oder Gutshöfen kommen Ausschreitungen gegen die Gutsbesitzer seitens der Bauern vor, wie überall im russischen Reich, als unausbleibliche Folge der brutalen Haltung der Gutsbesitzer wie der Regierungsbeamten.

Der Streik begann in Mitau am Sonnabend, dem 9. Dezember. Er war in der Voraussicht angesagt worden, daß der allgemeine russische Massenstreik beginnen sollte, – eine Voraussetzung, die sich vorläufig nicht bewahrheitet hat. Das Gerücht, daß die streikenden Arbeiter das Mitausche Schloß gestürmt hätten, ist, wie alle anderen gruseligen Geschichten, freie Dichtung. Desgleichen ist Dichtung, daß hier von den „Revolutionären“ Livland als „freie Republik“ proklamiert worden sei. Das Programm der hiesigen Arbeiter ist genau dasselbe wie im übrigen Rußland, eine demokratische Republik im ganzen russischen Reich.

Knjasew, der neue Gouverneur von Kurland, ergriff die altbekannten „energischen Mittel“. Am Sonnabend und Sonntag hieben die betrunkenen Kosaken auf das demonstrierende Volk ein und am Montag, dem 11. Dezember, wurde auf das Volk bloß aus dem Grunde geschossen, weil die Leute gelacht hatten, als ein Kosakenoffizier vom Pferde gefallen war. Als der Offizier sich erhob, rief er seinen Kosaken „Pli“ (das Schuß-Kommando) zu und unverzüglich begannen die Schüsse. Einige Personen wurden getötet, 20 bis 30 verwundet. Die Kosaken hieben unbarmherzig auf die Menge ein, welche sich in den Höfen der umliegenden Häuser hatte retten wollen, umringten die Höfe und zielten nach den Häusern, in denen sich jemand am Fenster blicken ließ.

Die hiesigen zarentreuen Deutschen sind bis zur Verzweiflung erbittert. Sie tragen den Kosaken Bier und Eßwaren zu und freuen sich unbändig, endlich den „rechten Schutz“ gefunden zu haben.

Die Juden befürchten, daß der neue Gouverneur nach berühmten Mustern eine Judenhetze inszenieren wird, doch dürfte ihm dieses hier wohl kaum gelingen, da die revolutionäre Arbeiterschaft ein zu gewichtiges Element der Bevölkerung ist, um sich etwas Derartiges ungestraft gefallen zu lassen.

Das Militär ist gereizt, es hat nämlich keinen Moment Ruhe und wird von einem Ort zum anderen gehetzt, um die immer mehr anwachsende Bewegung im Lande zu ersticken.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 298 vom 21. Dezember 1905.

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