Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 835

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sich während der letzten Jahre in immer gewaltigeren Demonstrationen Ausdruck zu verschaffen gewußt. Als letzten Frühling der Landtag Finnlands, eine in miserabelster Weise zusammengesetzte Vierkammerrepräsentation, sich weigerte, das allgemeine Stimmrecht zu den Bürger- und Bauernständen anzuerkennen, drohten die Demonstrationen in offenen Tumult überzugehen, was nur dank der festen Haltung der Arbeiterorganisationen verhindert wurde.

Die letzten Ereignisse in Rußland haben unterdessen unsere politische Entwicklung bedeutend beschleunigt, und im Laufe des im Oktober durchgeführten Generalstreiks wurde gleichzeitig vielfach die Einberufung einer Konstituierenden Nationalversammlung gefordert.

Die Intrigen der herrschenden Klasse und der Mangel an Solidarität verhinderten jedoch die Verwirklichung dieser Forderung, aber dann kam das famose Zarenmanifest vom Oktober[1], das wieder die Frage des allgemeinen, gleichen, direkten Stimmrechts auf die Tagesordnung setzte. Nachdem ist auch kein Vorschlag gegen das Prinzip des allgemeinen Stimmrechts hervorgetreten und die herrschenden Parteien haben sämtlich in großen Parteiversammlungen mit bedeutender Majorität sich für das Einkammersystem erklärt. Aber trotzdem kann man beunruhigende Symptome bemerken, besonders innerhalb der altschwedischen Fraktion, welche durch große, reiche Stimmberechtigte einen entscheidenden Einfluß ausübt bei der Zusammensetzung des Adels- und Bürgerstandes, teilweise auch des Priester- und Bauernstandes. Immer deutlicher läßt man uns verstehen, daß die herrschende Klasse die Absicht hat, durch das Zweikammersystem eine Schutzmauer für ihre Klassenprivilegien zu retten, wodurch unsere proletarischen Interessen und demokratischen Fortschrittsreformen natürlich in empfindlichster Weise beeinträchtigt würden.

Um das Volk aus dieser drohenden Gefahr zu retten, bereitet sich die Sozialdemokratische Partei vor, einen neuen Generalstreik zu proklamieren in dem Augenblick, da diese Lebensfrage unseres Volkes wieder durch Verschulden des Klassenparlaments im volksfeindlichen Sinne entschieden werden sollte. Im Vertrauen darauf, daß die Mitglieder der internationalen sozialdemokratischen Organisationen in allen Ländern verstehen werden, daß wir uns auf eine vollständig programmgemäße[2] und unvermeidliche Kraftanstrengung vorbereiten, wendet sich die finnische Parteivertretung hiermit an das internationale Sekretariat in der Hoffnung, daß wir durch Vermittlung desselben Unterstützung für eine vielleicht bald erforderliche, berechtigte Anstrengung erhalten, damit Finnlands Proletariat die elementarsten Freiheiten und politischen Rechte bekommt und dann besser ausgerüstet sich mit der großen internationalen Armee der Sozialdemokratie zu weiteren Kämpfen vereinigen kann.

Helsingfors, 13. Dezember 1905.

Emil Perttilai, August Rissanen, Schriftführer. Yrio E. Sirola, Parteisekretär.

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[1] In der Quelle: November. – Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[2] In der Quelle: programmäßige.