Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 112

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beitern Litauens. (Die städtische Bevölkerung ist entweder jüdisch oder polnisch, nur die ländliche spricht noch die wirkliche litauische Sprache.) Die junge polnisch-litauische Bewegung stak anfänglich in dem in Rußland damals sehr verbreiteten System der kleinen und abgeschlossenen politischen „Kränzchen“, wobei das ganze Gewicht auf die Heranbildung einzelner bewußter Sozialisten gelegt, die eigentliche Massenbewegung aber, der gewerkschaftliche und politische Kampf ganz außer acht gelassen wurden. Bei der Abgeschlossenheit der Branchen vom wirklichen Klassenkampf und bei der in ihnen sehr entwickelten politischen Kannegießerei schwärmte die ganze Organisation einige Zeit für den Nationalismus. Bald wehte indes auch in Litauen ein frischer Wind. Durch die Sterilität der Kränzchenpropaganda wurden die dortigen Sozialisten auf neue Bahnen gedrängt: Sie fingen an, sich direkt an die Massen zu wenden und sie zum täglichen Kampf um ihre naheliegenden Interessen, vor allem zum gewerkschaftlichen Kampf aufzurütteln und zu organisieren, wobei sich das Bedürfnis nach einem konkreten, aus den unmittelbaren Interessen sich ergebenden politischen Programm herausstellte. Andererseits brachte der große St. Petersburger Streik[1] das nationalistische Gerede von der absoluten Starrheit Rußlands endgültig in Mißkredit. Und so ging die litauische Organisation zum sozialdemokratischen Programm, zum Kampfe um politische Freiheiten im russischen Reich über, während die nationalen Utopien in die Rumpelkammer der Kränzchen wanderten.

Mit dem Übergang zur Massenagitation entfaltete die litauische Partei ihre Tätigkeit in bemerkenswerter Weise. Den Gewerkschaften wurde die größte Aufmerksamkeit und Energie zugewendet; die wichtigsten Gewerbe sind bereits organisiert und zwar in musterhafter Weise. Der Einfluß der Partei erstreckt sich bis auf das weibliche Proletariat – auf Wäscherinnen und Schneiderinnen. Und dies trotz der enormen Schwierigkeiten, welche der vorwiegend handwerksmäßige Charakter der Industrie und ihre Zersplitterung der Organisation bieten. Zu den wichtigen positiven Errungenschaften der polnischen Sozialdemokratie in Litauen gehört u. a. die Durchsetzung des achtstündigen Arbeitstages an Sonnabenden in den Eisenbahnwerkstätten in Wilno. Ein diesbezüglicher Erlaß für alle staatlichen Unternehmungen des Reiches wurde bekanntlich unmittelbar nach dem St. Petersburger Streik publiziert, blieb aber vorerst in Litauen ein toter Buchstabe. Die Sozialdemokratie beschloß im Januar 1897 ihn ins Leben einzuführen. Zu diesem Behufe fingen die Arbeiter der Eisenbahnwerkstätte an, einfach jeden Sonnabend systematisch nach acht Stunden Arbeit nach Hause zu gehen. Die Verwaltung ließ sich das nicht ruhig gefallen. Polizei und Gendarmerie waren natürlich bei der Hand und sperrten die Arbeiter in den Fabrikräumen ein, um sie gewaltsam zur Fortsetzung der Arbeit zu zwingen. Die Eingesperrten saßen ihrerseits ruhig, ohne die Arbeit zu berühren. Dies wiederholte sich jeden Sonnabend. Die Partei verbreitete zur Ermunterung der

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[1] Vom 8. bis 30. Juni 1896 streikten in St. Petersburg 30000 Textilarbeiter gegen Lohnabzüge und für Arbeitszeitverkürzung. Der Streik bildete den Ausgangspunkt einer breiteren Streikbewegung des russischen Proletariats für die Verkürzung des Arbeitstages, die 1897 einen Teilerfolg errang.