Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 704

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Die ländliche Massenrevolte wird natürlich ein ganz neues Element in die allgemeine Revolution hineintragen und ihren Charakter zunächst stark verschieben. In Bezug auf die Homogenität und die Klarheit der Bestrebungen und Ziele kann die Bauernbewegung natürlich nicht entfernt mit der proletarischen Bewegung der Industriestädte verglichen werden. In den Bauernunruhen laufen teils utopisch-kleinbürgerliche Aspirationen der landarmen Kleinbauern mit modernen ökonomischen Forderungen des ländlichen Proletariats, diese [ein Wort unleserlich] wiederum mit politischer Opposition gegen den furchtbaren Druck der Tschinownikwirtschaft[1], des Steuersystems, des Militarismus neben- und durcheinander. Dabei ist die Schichtung und Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung in verschiedenen Gegenden des Riesenreiches ziemlich verschieden. Dazu kommt, daß das Werk der Aufklärung und der Organisation der Masse durch die Sozialisten auf dem platten Lande viel jüngeren Datums und von unvergleichlich geringerem Umfang ist als in den Industriestädten. Allein die Revolution, der Kampf selbst wird auch hier, wie bereits bei dem Industrieproletariat, das Mangelnde bald nachholen, die innere Klärung, Disziplinierung, Organisation und schließlich Differenzierung nach Klassenlage auch in der Bauernschaft nach verkürzter Methode ins Werk setzen. In der Bauernbewegung wird sich freilich dieser innere revolutionäre Entwicklungsprozeß naturgemäß in noch viel heftigeren Explosionen Luft machen. Aber das letzte Kapitel der Bauernunruhen wird zugleich der Epilog zum Untergang des alten zaristischen Rußlands sein. Die Sturmglocken, die jetzt vom Kirchturm der rebellischen Dorfgemeinden der Kursker, Saratower, Smolensker Bezirke läuten, werden zur Totenglocke für den Absolutismus und all den sozialen und politischen Schlendrian sein, der drum und dran hängt.

Die nächste Wirkung der jetzt beginnenden Bauernunruhen auf die allgemeine Situation wird eine Verschärfung der Klassen- und Parteigegensätze in dem bisherigen Kampflager sein. Der agrarisch-adelige Semstwoliberalismus[2] wird, erschrocken durch den roten Hahn, noch energischer auf den schleunigsten Abschluß der Revolution drängen. Das städtische Proletariat wird dadurch in seinem revolutionären Vormarsch noch mehr isoliert werden, andererseits aber wird es naturnotwendig die Führung der Bauernmasse an sich zu reißen suchen. Die Aufgaben der klassenbewußten Arbeiterschaft in Rußland wachsen somit mit jedem Tage gewaltig an. Die russische Revolution stellt ihr bereits im Kleinen dieselbe Aufgabe, die dem internationalen Proletariat überhaupt von dem weltgeschichtlichen Werdegang auferlegt worden ist: die Vorhut und die Sturmkolonne des gesamten arbeitenden Volkes, des ganzen enormen Heeres der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu sein. –

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[1] Beamten- und Bürokratenwirtschaft.

[2] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.