Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 605

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/605

„Rußland braucht vor allem Ruhe!“ erklären die Soldatenpatrouillen den aus Anlaß des Zarenmanifestes demonstrierenden Arbeitermengen und bedecken das Pflaster mit Toten und Verwundeten in Petersburg, Moskau, Warschau, Sosnowice, Kiew, Kasan, Kischinjow, Poltawa, Bial/ystok.

„Rußland braucht nach dem Zarenmanifest vor allem Ruhe!“ erklären verkleidete Polizistenbanden in Odessa und zetteln eine Judenmetzelei an.

„Rußland braucht vor allem Ruhe!“ rufen hinterdrein reitende Kosakenbanden und veranstalten ein Blutbad unter der wehrlosen Bevölkerung.

Und „Rußland braucht jetzt vor allem Ruhe!“ wird heute oder morgen schon auch der russische Liberalismus erklären. Deshalb sind eben die sonst und an sich politisch ganz belanglosen Glossen des deutschen Liberalismus zu den Vorgängen im Zarenreiche beachtenswert, weil sie in der Seele des heutigen auf den Hund gekommenen Helden des westeuropäischen bürgerlichen Liberalismus mit untrüglicher Sicherheit die zu gewärtigenden Seelenregungen des „jungen“ russischen Liberalismus spiegelt. Ist doch der nicht aus einer gesunden Klassenbewegung der kapitalistischen industriellen Bourgeoisie, sondern aus dem Schmollen und Frondieren eines großgrundbesitzenden Adels gegen die Polizeiwillkür und die Tschinownikwirtschaft[1] emporgewachsene russische „Liberalismus“ an Jämmerlichkeit sogar dem unvergleichlichen deutschen Liberalismus in hohem Maße überlegen. Die wenigen echt bürgerlichen und großbürgerlichen Elemente in Rußland, die sich im Laufe der letzten revolutionären Krise dem Rufe nach einer gründlichen Reform, nach „Kulturformen“ im Staatswesen angeschlossen haben, taten es nicht etwa aus platonischer Liebe für die „Freiheit“, sondern aus sehr handgreiflichem Unbehagen über die „Wirren“, deren Herr der Zarismus nicht mehr zu werden vermochte. Es ist nicht die Knute, die ihnen nunmehr den Abscheu einflößt, sondern umgekehrt die Ohnmacht der Knute gegenüber der „Straße“. Es ist nicht das Blutregiment selbst, sondern lediglich die unheimlichen Begleiterscheinungen seiner Zersetzung, die schließlich auch den bürgerlichen Kreisen Rußlands unerträglich geworden sind.

Und als drittes Element der bürgerlichen Freiheitsbewegung in Rußland kommt noch die schwankende, innerlich haltlose Schicht der bürgerlichen demokratischen Intelligenz in Betracht, die naturgemäß zwei Seelen in ihrer Brust trägt und in ihrer ganzen Aktion beständig zwischen dem „ordnungsliebenden“ Adelsliberalismus und der revolutionären Arbeiterbewegung pendelt.

Daß ein so beschaffener, auf so heterogenen Elementen beruhender Liberalismus ein gefährlicher Bundesgenosse ist, – dürfte vielleicht schon die nächste Stunde wieder einmal zeigen.

In Revolutionszeiten reifen Menschen, Klassen und Dinge mit unheimlicher Schnelligkeit. Das Zarenmanifest hat an positiven Errungenschaften noch gar nichts

Nächste Seite »



[1] Beamten- und Bürokratenwirtschaft.