Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 580

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die das ganze Volk der Hauptstädte erfaßt hat, ist es durchaus nicht sicher, daß Polizei und Truppen nicht am Ende doch mit dem Volke fraternisieren würden.

Eine russische Korrespondenz meldet: „Von der Stimmung unter den Truppen läßt sich Allgemeingültiges nicht sagen. Als Symptom aber ist bemerkenswert, daß am Mittwoch in einer Eisenbahnarbeiterversammlung ein Offizier eine Rede hielt, in der er erklärte, die Offiziere wollten nicht mehr dem Absolutismus dienen, sondern dem Volk. Sie verlangten die Trennung der verhaßten Gendarmerie und Polizei vom Heer, ferner teilte er die Truppen in drei Klassen, diejenigen, die auf Befehl auf das Volk schießen würden, diejenigen, die sich weigern und endlich die, die auf die Schießenden schießen würden. Nach dem Offizier sprach ein Soldat, der erklärte, da der Absolutismus das Vaterland verraten hätte, sei es Soldaten Pflicht, für das Vaterland gegen den Absolutismus zu kämpfen.

Auch unter der Petersburger Polizei gärt es nach einem Bericht des Scherl-Blattes[1]: „Die niederen Polizeichargen kommen scharenweise um ihren Abschied ein, sie halten ebenfalls Meetings ab, ihre Lage soll schleunigst verbessert werden.“

Es wäre gewiß voreilig, sich in Prophezeiungen über ein allgemeines Meutern der Armee ergehen zu wollen, aber es verdient doch erwähnt zu werden, daß noch in allen Revolutionen, die alle Volkskreise ergriffen hatten, die Armee sich als unzuverlässig erwiesen hat. Zudem erlebt der Zarismus ein warnendes Menetekel in dem erneuten

Aufruhr der Schwarzmeer-Flotte

Aus Odessa wird gemeldet: Beunruhigende Nachrichten sind hier aus Sewastopol eingetroffen. Danach wurde das Schlachtschiff „Knjas[Fürst] Potjomkin“ von der Schwarzmeer-Flotte am Mittwoch von Brandstiftern in Brand gesteckt und von den Flammen völlig vernichtet. Gleichzeitig brach unter der Besatzung des Schlachtschiffes „Kaiserin Katharina II.“ eine Meuterei gegen die Offiziere aus. Gleiches ereignete sich bei einer Kompanie der Festungs-Artillerie. Beide Meutereien konnten nur unter großen Schwierigkeiten unterdrückt werden. 400 Mann wurden verhaftet.

Das Manifest des Zaren[2]

ist heute erschienen. Es soll eine Einlösung des Versprechens darstellen, daß dem Volke die Versammlungsfreiheit gewährt werden solle, es dürfte aber angesichts der durch zwölf Sonderpunkte festgelegten Beschränkungen nur geringen Eindruck machen; insbesondere werden der die Aufsicht führenden Persönlichkeit, welche die Regierung zu jeder drei Tage vorher angemeldeten Versammlung entsendet, weise Vollmachten zu ihrer Schließung in die Hand gegeben.

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[1] Gemeint ist der „Berliner Lokal-Anzeiger“, der ab 1883 im Verlag von August Scherl erschien und von den Arbeitern „Skandalanzeiger“ genannt wurde.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.