Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 581

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Stimmung in Petersburg wird denn auch im „Tag“ in einem Telegramm von heute in düstersten Farben geschildert: „Wir stehen am Vorabend der Revolution, die jeden Augenblick mit all ihren Schrecken über uns hereinbrechen kann. Unbeschreibliche Angst hat die ganze Bewohnerschaft ergriffen, sie wird auch nicht verscheucht durch den heutigen Erlaß des Generalgouverneurs Trepow, der versichert, alle Maßnahmen zur sofortigen Niederkämpfung jeden Widerstandes getroffen zu haben.“

Feuersbrunst in Warschau

Das „Wolffsche [Telegraphische] Bureau“ meldet: Amtliche Meldung. Telegramme nach Rußland erleiden seit gestern erhebliche Verzögerungen. Die Leitungen nach Warschau, Odessa und Kiew sind gestört. (Feuersbrunst in Warschau.)

Nach einer anderen Meldung soll ein ganzer Stadtteil in Flammen stehen.

Moskau ohne Wasser und Gas

Moskau, 27. Oktober. Seit heute gibt es in der Stadt kein Wasser und kein Gas. Die Straßenbahn fährt nur mit einigen Wagen auf vereinzelten Linien. Die Bäckereien sind fast sämtlich geschlossen, die noch offenen verkaufen ihr letztes Brot und schließen dann ebenfalls. Semstwo[1] und Stadtverwaltung funktionieren nicht; viele private Institute, Büros und Kontore haben ihre Tätigkeit eingestellt. Der Gouverneur konstatiert in einem Aufruf an die Bevölkerung, daß die Arbeiter durch die Agitation böswilliger Personen verhetzt seien, und gibt beruhigende Erklärungen ab. Überall ist Militär aufgestellt, das Befehl hat, bei dem geringsten Versuch zu gewaltsamen Handlungen auf jegliche, auch die geringste Volksanhäufung zu feuern.

Straßenkämpfe in Charkow

Charkow, 26. Oktober. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Der telegraphische Dienst ist wieder aufgenommen worden; dadurch ist es möglich, eine Schilderung der Vorgänge seit dem 24. Oktober zu geben. Am 24. Oktober wurden in der Universität mehrere Arbeiterversammlungen abgehalten. Bei einer dieser Versammlungen traf die Nachricht von dem Tode eines Studenten namens Constantinidi ein, der durch eine Patrouille verwundet worden war, ferner von Gewalttaten, welche Rowdys gegen Studenten verübt hatten. Als man hörte, daß Truppen ankämen, wurde beschlossen, die Universität zu verbarrikadieren, um sie mit Waffengewalt zu verteidigen. Es wurden acht Barrikaden aus Telegraphenpfählen, Pflastersteinen, Draht usw. errichtet. Der durch die Barrikaden abgesperrte Bezirk schloß die Kathedrale, die Universität und die Gerichtsgebäude ein. Die Gerichtsarchive wurden zerstört, der Boden war mit Papieren bedeckt. Die Universität war in eine Festung verwandelt, Türen und Fenster waren mit Massen von Steinen, Kohle und Balken verbarrikadiert. Die dort versammelte Schar zählte

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[1] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.