Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 498

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sichtbaren Feind, der nur ein halb mystisches Dasein führt, kapitulieren würde, dies tut sie nur vor einer sichtbaren, greifbaren realen Macht, die ihr begründete Furcht und Respekt einjagen kann, und eine solche Macht ist nur eine wirkliche klassenbewußte Volksbewegung, die als Ausdruck herangereifter historischer Notwendigkeiten auftritt. Zur terroristischen Bewegung hingegen genügt schon an sich, wie dies wieder der Gerschuni-Prozeß so schlagend beweist, nur ein ganz winziger Kreis von Personen, die an sich von der sozialen Entwicklung und Bewegung des Landes ganz losgelöst sein können und deren Schwäche der Absolutismus nur zu leicht ergründen kann.

Derselbe Prozeß zeigt aber auch deutlich, wie sehr sich das soziale Leben Rußlands entwickelt hat, wie sehr sich die Verhältnisse geändert haben. Heute sind nicht nur alle theoretischen Voraussetzungen und Glaubensartikel der alten Terroristen – die geschichtliche Mission der kommunistischen Landgemeinde, die Bedeutung des Bauerntums als des künftigen Trägers der sozialistischen Umwälzung – von der marxistischen Kritik restlos weggespült worden. Heute gibt es auch bereits eine ernste und wachsende Massenbewegung des industriellen Proletariats in Rußland, die naturgemäß die revolutionäre Energie des Landes absorbiert und Hoffnungen auf sich vereinigt. Und da findet der systematische Terror keinen Grund unter den Füßen, keine geeignete Atmosphäre, um eine ernste Bewegung, wenn auch nur wieder als ein verunglücktes Experiment für einige Jahre, ins Leben zu rufen. Der politische Tageskampf der Arbeiterschaft kann durch die Terroristen nur aufs schwerste geschädigt und gefährdet werden, indem der Terror der Arbeiterbewegung immerhin Kräfte entzieht und falsche Illusionen erweckt. Und der Terror seinerseits vermag von der heutigen Arbeiterbewegung in Rußland nicht frische Kraft zu schöpfen, sondern verliert umgekehrt in ihrer Atmosphäre naturgemäß den inneren Halt, den inneren Glauben an sich und die Werbekraft. Einzelne terroristische Akte werden wohl in Rußland noch vorkommen, und sie werden wahrscheinlich so lange noch vorkommen, wie der zaristiche Absolutismus existiert, denn – das mögen sich die Herren Bülow, Schönstedt und Richthofen bei ihrer Jagd nach Schnorrern, Verschwörern und Anarchisten gesagt sein lassen – der Absolutismus in Rußland produziert den spontanen Terror ebenso naturgemäß, wie die Klassenherrschaft der Bourgeoisie in Westeuropa den Anarchismus produziert. Aber wie hier die Sozialdemokratie das einzige wirkliche Mittel gegen den anarchistischen Wahnwitz, so hat sich die im Geiste des Marxismus herangewachsene russische Arbeiterbewegung als das sicherste Mittel gegen die Illusionen des Terrorismus erwiesen. Die Zeiten des systematischen Terrors sind in Rußland vorbei, und das beweist gerade der tieftragische Prozeß der Gerschuni und Genossen.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 91 vom 19. April 1904.

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