Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 497

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– die von Karpowitsch und Balmaschkow – nur spontane und individuelle Akte der Erbitterung, der Notwehr waren, unterliegt kaum einem Zweifel. Diese ersten Ausbrüche der oppositionellen und revolutionären Anspannung der Energie in der russischen Gesellschaft kamen von selbst, genauso wie jener Schuß von Wera Sassulitsch auf Trepow im Jahre 1878 von selbst kam, als einfache naturnotwendige Reaktion auf die unmenschlichen, unerträglichen Bestialitäten verschiedener Diener des Absolutismus.[1] Sie kamen unerwartet für die Gesellschaft, wirkten aber sofort wie ein befreiender Akt der Ermannung, der Erlösung aus der dumpfen Atmosphäre des knechtischen Schweigens und Duldens gegenüber allen Zumutungen des vertierten und vertierenden Regimes. Wir glauben auch, daß solche spontanen Notwehrakte für jeden zivilisierten Menschen vollkommen begreiflich sind, der nur eine Ahnung von den Schrecknissen des russischen Absolutismus hat und der sich die Welt nicht aus der Perspektive des preußischen Regierungsrates ansieht, für den nur die Personen der Regierenden heilig, nur ihre Ehre ein unantastbares Gut ist. Freilich verstehen es unsere Geheimräte sehr gut, gegen die afrikanischen Hereros, gegen die „bezopften Chinesen“ zum „Rachefeldzug“ zu hetzen und für jedes vernichtete Leben eines deutschen Kolonialabenteurers ein Leben – nein, Tausende von Leben als „Sühne“ zu fordern; sie verstehen es wohl, für „die Ehre der Deutschen“ nach Rache zu schreien, sobald irgendwo in Honolulu oder in Patagonien irgend jemand die Deutschen „mit scheelem Blicke“ anzusehen wagt. Sie begreifen bloß nicht, daß zum Beispiel auch im russischen Volke, dessen Wohl und Menschenwürde tagtäglich aufs grausamste von der eignen Regierung mit Füßen getreten wird, sich von Zeit zu Zeit die Verzweiflung in einzelnen Gewaltakten Luft macht. Wir unsererseits begreifen diese Erscheinungen vollkommen. Eine ganz andre Sache ist es allerdings, wie man solche terroristischen Akte als politisches Kampfmittel beurteilt. Und da muß gesagt werden, daß das Aufkommen des Terrorismus in Rußland – wie paradox dies auch klingen mag – stets ein Zeichen der Schwäche der revolutionären Bewegung ist. Das Bedürfnis, in Attentaten auf einzelne Träger des Absolutismus der aufgespeicherten Erbitterung und Qual Luft zu machen, kommt nur in Momenten auf, wo keine ernste Massenbewegung als normaler Ausdruck und zugleich Sicherheitsventil der revolutionären Energie und des oppositionellen Geistes fungiert. Tatsächlich ist die terroristische Taktik aus der Enttäuschung nach den mißlungenen Versuchen der siebziger Jahre, eine bäuerliche Massenbewegung ins Leben zu rufen, entstanden.[2]

Andererseits trägt der terroristische Kampf in sich selbst als politisches Unternehmen den Beweis seiner inneren Schwäche. Läuft er doch auf den Plan hinaus, den Absolutismus durch die Furcht vor einer unsichtbaren, geheimnisvollen revolutionären Macht einzuschüchtern und zu Konzessionen oder gar zum Abdanken zu zwingen. Nun ist es aber höchst naiv zu glauben, daß irgendwelche Regierung vor einem un

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[1] Siehe S. 362, Fußnote 4.

[2] „Narodnaja Wolja“ (Volkswille) war 1879 als illegale revolutionäre Organisation aus der nach 1861 in Rußland entstandenen Bewegung der Narodniki/Narodowolzy (Volkstümler) hervorgegangen. Sie bildete sich nach der Spaltung von „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit). Die Ziele von „Narodnaja Wolja“ waren u. a. allgemeines Wahlrecht, Gewissens- u. Pressefreiheit, eine tiefgreifende Agrarreform, in deren Ergebnis das Land den Bauern übertragen werden sollte, die es bearbeiteten. Die Zeitung „Narodnaja Wolja“ erschien – mit Unterbrechungen – illegal zwischen Oktober 1879 und Oktober 1895 mit einer Auflage von 2000 bis 3000 Exemplaren. Den Sturz der Selbstherrschaft versuchte sie durch Taktik der Verschwörung und des individuellen Terrors zu erreichen. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881 wurde die Organisation zerschlagen.