Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 496

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nossen Gerschuni und Weizenfeld belastete. Letzterer, dem es bis dahin gelungen war, der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen, wurde denn auch gleich darauf in Jekaterinoslaw verhaftet, und so hatte die Gendarmerie die Fäden in ihrer Hand.

Es ist nun selbstverständlich, daß es Verräter, wie den Leutnant Grigorjew, und Schwachmütige, wie den armen Katschura, überall und stets bei einem revolutionären Kampf gegeben hat und gibt – zumal in einem wie dem terroristischen in Rußland, der die höchsten Anforderungen an die Seelenstärke und die Selbstaufopferung des Menschen stellt.

Allein der auf diesen Verrätereien gegründete Prozeß macht in diesem Falle zweifellos den Eindruck einer großen inneren Schwäche der terroristischen Richtung in Rußland. Nachdem man sich nämlich aus allen Einzelheiten ein allgemeines Bild der Tätigkeit der terroristischen Organisation zu machen sucht, kommt man unwillkürlich zu dem Schluß, daß hier eigentlich nur ein ganzer und allerdings mit großer Seelenkraft begabter Mann eine Rolle spielte – der Gerschuni –, das übrige aber mehr revolutionärer Schein war als eine ernste Bewegung und eine Organisation. In der Anklage wird allen fünf Angeklagten die Zugehörigkeit zu der vielgenannten „Bojewaja Organisazia“ – „Kampforganisation“ – zur Last gelegt. Es wird aus den Akten der Anklage aber selbst klar, daß z. B. die „Zugehörigkeit“ des Grigorjew, des Katschura, des Weizenfeld zur „Kampforganisation“ lediglich darin bestand, daß sie immer wieder mit demselben Gerschuni und nur mit ihm, der bald in Petersburg, bald in Kiew, bald in Charkow auftauchte, verkehrten, im übrigen aber von der Zusammensetzung, den Funktionen, den Mitteln dieser geheimnisvollen „Organisation“ nicht die leiseste Ahnung hatten. Am Ende dürfte diese ganze „Organisation“ vielleicht wenig mehr als aus Gerschuni selbst bestanden haben. Die materielle Schwäche dieses Treibens zeigt schon die Tatsache, daß Gerschuni einen so innerlich haltlosen Menschen wie den Leutnant Grigorjew, der nach allen seinen Verrätereien noch im Gerichtssaal auf die Knie fiel und um die Gnade des Zaren flehte, mit der Ausführung eines Attentats auf den Oberprokurator der Synode Pobedonoszew beauftragen, ihn dazu direkt drängen konnte. Ebenso wie den Grigorjew hatte Gerschuni auch den Katschura durch die ganze Einwirkung seiner offenbar faszinierenden Persönlichkeit zur Ausführung des Attentats auf Obolenski bewogen. In beiden Fällen aber verflog eben der Heroismus, sobald die persönliche Einwirkung Gerschunis beseitigt war. So heißt es, daß jener ergreifende Abschiedsbrief von Katschura von Gerschuni vor dem Attentat direkt in die Feder diktiert und dann sogleich von Gerschuni wieder abgenommen wurde. Genauso verfuhr Gerschuni mit dem Grigorjew, den er unbedingt dazu anhalten wollte, vor der Ausführung des geplanten Attentats auf Pobedonoszew ein politisches Bekenntnis im terroristischen Sinne schriftlich abzufassen.

Im Ganzen läßt sich aus dem Prozeß von Gerschuni und Genossen deutlich herausfühlen, wie sehr die terroristische Bewegung in Rußland heutzutage des Bodens entbehrt, wie sie gewissermaßen in der Luft hängt. Daß die ersten Attentate in den Jahren 1901 und 1902

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