Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 393

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standen, für die das belgische Proletariat noch lange nicht reif sei, und obendrein wären preußische und französische Bajonette ins Land gerückt, um die belgische Arbeiterbewegung im Blute zu ersticken. Wir lassen den tatsächlichen Unverstand, der in diesen Sätzen steckt, auf sich beruhen; angenommen, wenn auch nicht zugegeben, das es sonst mit ihnen stimmte, so lautet die angemessene Schlußfolgerung aus ihnen: Die belgischen Arbeiter hatten nicht nur das allgemeine Stimmrecht, sondern auch die Republik in der Hand, aber sie mußten die seltenen Vögel fliegen lassen, denn sie können, wie jene Philister von 1848, das allgemeine Stimmrecht und die Republik nur gebrauchen mit dem König an der Spitze.

Wir greifen dies Beispiel heraus, weil es in drastischer Weise die Furcht vor dem Siege illustriert, und nicht etwa weil wir fürchteten, daß nennenswerte Teile der deutschen Arbeiterklasse so argumentieren könnten. Wir möchten auch annehmen, daß die belgischen Arbeiterführer sich ihre schwer verständliche Taktik doch nicht so naiv zurechtgelegt haben, wie ihr Homer es tut. Aber in erträglicheren Formen ist die Furcht vor dem Siege zu einem Leiden geworden, das sich in allen europäischen Arbeiterparteien mehr oder minder bemerkbar macht; in der Neigung zu Kompromissen mit bürgerlich-oppositionellen Parteien, in dem Verleugnen „revolutionärer“ und dem Hätscheln „gesetzlicher“ Mittel, in der Überschätzung des bürgerlichen Parlamentarismus, in der „Revision“ der „alten Agitationsfehler“, in der Beiseiteschiebung der politischen Aktion zu Gunsten der genossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisation und wie diese Mittel und Mittelchen sonst noch heißen. Es kann und soll nicht geleugnet werden, daß auf diesem Wege auch Erfolge erreicht werden können, aber doch nur Erfolge, die in ihrem höchsten Maße sich darauf beschränken, der modernen Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaftsformation diejenige offiziell anerkannte Stellung zu geben, die in der feudalistischen Gesellschaftsformation die Bauern besaßen. Eine Emanzipation des Proletariats aus den Fesseln der Lohnsklaverei ist auf dem Wege dieser Taktik unmöglich denn um das Lohnverhältnis aufrechtzuerhalten, stehen alle bürgerlichen Klassen und Parteien mit hauendem Säbel und schießender Flinte bereit, vom Grafen Posadowsky bis zu Herrn Eugen Richter.[1]

Zum Glück aber läßt sich die moderne Arbeiterklasse nicht zu einem stabilen Elemente der kapitalistischen Gesellschaftsformation machen, wie es die Bauernklasse in der feudalistischen Gesellschaftsformation gewesen ist. Eben deshalb dürfen die heutigen Arbeiter auf so blutige oder erfolglose Waffen verzichten, wie es die mittelalterlichen Bauernkriege waren. Die große Industrie diszipliniert und organisiert sie zu einer Macht, an der schließlich die Bajonette wie Strohhalme zersplittern werden. Jedoch erworben will diese Macht allerdings sein; wie eine gebratene Taube fliegt sie auch der großindustriellen Arbeiterklasse nicht in den Mund. Erst aus dem Be

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[1] Arthur Graf von Posadowsky-Wehner war als Konservativer 1897 bis 1907 Vizekanzler, Eugen Richter war führender Vertreter der Freisinnigen Volkspartei, siehe auch S. 142, Fußnote 5.