Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 391

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Ich wollte Ihnen noch etwas sagen: Obwohl viele von den Unseren verhaftet sind, vielleicht nicht mehr leben, werden wir doch standhaft bleiben. Es schadet nichts, daß die Arbeit wieder aufgenommen worden ist, jetzt ist die Zeit so, daß niemand sich mit der Niederlegung der Arbeit begnügen wird. Jetzt wünschen alle mehr. Man will auf die Straße. … B. (ein Arbeiter, der unversehrt geblieben ist) meint, daß es schade wäre, daß man keine Fahne hatte. Ein anderes Mal wird eine Fahne zur Stelle sein, und auch Pistolen: Steine und Messer helfen nicht viel gegen Bajonette.“ …

Auf den Obuchowschen Stahlwerken der russischen Marineverwaltung, die in dem Dorfe Alexandrowo bei Petersburg gelegen sind, feierten am 1. Mai mehrere Hundert Arbeiter, darunter auch Arbeiterinnen. In der Kanonenwerkstatt z. B. schafften statt 180 nur zwölf Arbeiter. Dieser „Frevel“ sollte durch die Entlassung von 60 bis 70 „Aufwieglern“ geahndet werden. Darauf erklärten sich die Arbeiter solidarisch und forderten die Wiedereinstellung der Gemaßregelten, den Achtstundentag, die Aufhebung der Strafbedingungen und die Entlassung des Vizedirektors. Die Hüttenverwaltung berief Polizisten und Gendarmen, um die Unbotmäßigen zur Unterwerfung zu bringen. Die Arbeiter empfingen sie mit den Rufen: „Freiheit müssen wir haben!“, „Wir kämpfen für politische Freiheit und den Achtstundentag!“ Mit Steinwürfen schlugen sie den Angriff der Bewaffneten zurück. Erst dem aufgebotenen Militär gelang es, die Proletarier zu Paaren zu treiben. 10 Tote blieben auf dem Kampfplatz und mehrere Dutzend von Verwundeten. Anfang Oktober wurde in Petersburg gegen die „Aufrührer“ verhandelt. Unter ihnen befanden sich zwei Arbeiterinnen, die Jakowljewa und Burtschewskaja, welche hervorragenden Anteil am Kampfe genommen hatten. Die Anklageschrift sagt über ihre Haltung: „Die Arbeiterinnen Jakowljewa und Burtschewskaja rissen das Pflaster auf und trugen in ihren Röcken den kämpfenden Arbeitern Steine zu, wobei die Jakowljewa ausrief: ‚Wir stehen zu unseren Brüdern.‘“ Wie ein Zeuge aussagte, nahm die genannte Arbeiterin an „gewissen geheimen Zusammenkünften teil“. –

Anzeichen des erwachenden Klassenbewußtseins der russischen Proletarierinnen sind es, die uns in diesen Vorgängen entgegentreten. Und zu diesen Anzeichen gesellen sich andere, die von der reifenden Erkenntnis und dem zielklaren Willen unserer Schwestern melden, von Solidaritätsgefühl und Opfermut. Die russische Proletarierin ist in Reih und Glied des internationalen kämpfenden Proletariats eingerückt. Und wenn die revolutionäre Bewegung in Rußland ihr nächstes Ziel erreicht: den Sturz des Absolutismus, der die Bahn freilegt für den schärfsten Kampf gegen den Kapitalismus; wenn der Morgen der politischen Freiheit den Millionen tagt, die „Väterchens“ Knute heute noch züchtigt: so gebührt ein gut Teil des Verdienstes am Siege den russischen Frauen, den russischen Arbeiterinnen.

Die Gleichheit (Stuttgart),

12. Jg., Nr. 9 vom 23. April 1902.

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