Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 390

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Ausgebeuteten aller Länder vereinigen. Sie führen uns gleichzeitig in die Gedanken- und Empfindungswelt der russischen revolutionären Arbeiterinnen ein.

Die „Iskra“ („Funke“, eine sozialdemokratische Zeitschrift für die Arbeiter) veröffentlicht folgenden Brief einer Petersburger Arbeiterin, welche als Mitglied einer Geheimorganisation die Maifeier des letzten Jahres mit vorbereitet hatte, die sich zu einer eindrucksvollen Kundgebung gestaltete und von Polizei und Militär barbarisch niedergeknüttelt wurde:

„Halten Sie meinen Brief nicht für das Zeichen der Kleinmütigkeit, ich bin sehr abgequält und weiß nicht, was tun. … Sie wissen wohl, daß es bei uns einen Aufruhr gegeben hat und daß W. nicht mehr da ist. Ihn habe ich seit dem 29. nicht mehr gesehen, und damals sagte er mir, daß man wahrscheinlich bei ihnen am 1. Mai nicht arbeiten würde. Als ich hörte, daß es zum Kampfe in dem Stadtviertel Siborskaja gekommen war, ließ ich die Arbeit ruhen und lief hin, aber es war unmöglich, zur Brücke zu kommen: Die Arbeiter selbst ließen die Frauen nicht durch. Ich erwartete W. in seiner Wohnung, er kam aber nicht mehr zurück. Ich erkundigte mich nach ihm in der Kaserne, allein man konnte mir nicht Bescheid sagen; in der Ochranka[1]* auch nicht… Entweder war er tot oder tödlich verwundet… Manche sagten, sie hätten ihn in den vordersten Reihen gesehen, er habe gerufen: „Hoch die Revolution!“, dann sei er zu Boden gefallen. Die Polizei zog nicht eher ab, bis alle fort waren, sie hob die auf, die nicht selbst aufstehen konnten.

Sie können nicht verstehen, wie es mir und uns allen peinlich war, nicht zu den Übrigen gelangen zu können. Wir wollten alle zum Newski[2]* oder in die Stadt. Zu schwer ist es, wie ein Hund in einer Ecke zu sterben, wo niemand uns sieht. Wahrscheinlich ist es das Los der Arbeiter, in Einsamkeit zu sterben: Wahrhaftig, sogar ein leidlicher Tod wird uns nicht gegönnt. Und was für uns noch sehr peinlich ist: Den ganzen Winter ist man zu uns gekommen und hat sich unseretwegen gestritten,[3]* und gerade jetzt war niemand da: Sie sind weggefahren, A. ist nicht da, und es ist keiner statt seiner gekommen. W. sagte immer, daß wir selbst entscheiden müßten, und das ist schrecklich, nicht aber das Sterben! Mir scheint’s, wäre jemand von Ihnen dagewesen, so wäre alles anders gekommen, sie hätten anders entschieden, und W. wäre am Leben geblieben. Und mir scheint’s im Augenblick, als W. und die anderen in den Tod gingen, verbrachte man die Zeit gemütlich; zu A. war vielleicht seine Frau gekommen. … Ich weiß, Sie sind nicht schuld daran, es ist bloß Zufall, aber doch ist es schmerzlich, nicht wahr? …

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[1] * So wird im Volke die „St. Petersburger Abteilung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit“ genannt. Diese „Abteilung“ ist ein politisches Spitzelbüro.

[2] * Hauptstraße von St. Petersburg.

[3] * Diese Äußerung bezieht sich auf die Auseinandersetzungen zwischen den russischen Sozialdemokraten und den anderen revolutionären Kämpfern aus den Reihen der „Intelligenz“. An der Maidemonstration in St. Petersburg nahmen in der Hauptsache nur Proletarier teil, welche in geschlossenen Massen auf dem Newski erschienen.