Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 389

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/389

welches dem selbstherrlichen Zarentum einen Kampf auf Tod und Leben ansagt, welches das Doppeljoch des Absolutismus und Kapitalismus brechen will.

Schon in den früheren Zeiten der revolutionären Bewegung begegnen wir neben den Frauen der „Intelligenz“ – Studentinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen, Schriftstellerinnen etc. – auch einzelnen Arbeiterinnen als Freiheitskämpferinnen. Nun aber wächst allmählich die Zahl der Proletarierinnen, die sich und ihrer Klasse „das Himmelreich auf Erden“ errichten wollen. Ein rührender und erhebender Bildungseifer gibt sich in den Reihen der Arbeiterinnen kund, in denen der sozialistische Befreiungsgedanke erwacht. Die revolutionäre Bewegung tritt an die meisten von ihnen als Kulturbringerin im umfassendsten Sinne des Wortes heran. Sie vermittelt ihnen nicht nur soziale und politische Aufklärung, sie erzieht sie nicht nur zu Solidarität und Selbstverleugnung und stählt ihren Charakter, sie muß ihnen auch meist erst die Elementarkenntnisse des Lesens, Schreibens, Rechnens etc. geben. Dankbare und gelehrige Schülerinnen lernen die kennen, welche sich in Sonntags- und Feierabendkursen, in Unterhaltungen und Lesestunden die Bildung des Volkes angelegen sein lassen. Die Verhältnisse, in denen die russische Proletarierin lebt, schärfen auch ihr den Blick für das Erkennen der sozialistischen Heilswahrheit. Es steigt die Zahl der Arbeiterinnen, die geheimen Organisationen angehören und opferfreudig für sie wirken durch Agitation von Person zu Person, durch Verbreitung von Schriften, Sammlung von Geldern etc. Immer bemerkenswerter wird die Beteiligung der Arbeiterinnen an den wirtschaftlichen Kämpfen, an den politischen Manifestationen. Und wie teuer müssen sie nicht oft jede solche Beteiligung büßen! Wenn die deutsche Fabrik noch recht oft ein Zuchthaus ist, so ist die russische Fabrik fast stets die Hölle. Wenn Deutschland die fromme Kinderstube ist, wo für das freie Wort, die kühne Tat der Polizeiknüttel bereit liegt, so ist Rußland das Gefängnis, neben dem der Galgen steht und Sibirien wartet.

Die Maifeier des letzten Jahres bekundete, daß auch die russischen Arbeiterinnen die Losung verstehen: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ In fast allen größeren Industriezentren, wo Arbeiter – zum Teil mit „Intellektuellen“[1] zusammen – die Maifeier begingen, da nahmen auch Arbeiterinnen in größerer oder kleinerer Zahl an den Kundgebungen teil. Arbeiterinnen feierten, obgleich sie wußten, daß sie dafür die Strafe der Aussperrung, des Lohnabzugs etc. treffen würde. Sie feierten und demonstrierten in den Straßen, obschon ihnen gut bekannt war, daß Befehl gegeben worden, die Knute hauen, die Flinte schießen zu lassen. Uns liegen zwei interessante Mitteilungen vor, welche sich auf die Beteiligung der russischen Arbeiterinnen an der Maifeier, am Kampfe für politische Freiheit und Reform der Arbeitsbedingungen beziehen. Diese Mitteilungen lassen uns die Schwierigkeiten und Gefahren ahnen, unter denen unsere russischen Schwestern am 1. Mai ihre Stimmen mit denen der

Nächste Seite »



[1] In der Quelle: „Intelligenten“.