Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 709

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Der Biedermann läßt die Maske fallen

Petersburg, 18. November. Graf Witte[1] hat einen energischen Feldzug gegen die Revolutionäre eröffnet. Er entsandte Vertreter des neuen Handels- und Arbeitsministeriums zu den Arbeitern und ließ ihnen sagen, das Ministerium stehe ihnen zur Verfügung, sie müßten sich jedoch von der revolutionären Organisation trennen. Die Arbeiter lehnen das ab, und der revolutionäre Vollziehungsausschuß hat einen Gegenentwurf zu einer sozialen Revolution erlassen. Gleichzeitig entsandte er Vertrauensleute, um die sozialdemokratische Partei in die Reihen der Sozialrevolutionäre[2] hinüberzuziehen. Graf Witte antwortet darauf mit der Drohung, der Kriegszustand würde verhängt werden.

Petersburg, 18. November Zum Schutze des Grafen Witte sind besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen worden. (!)

Das Wüten der „Scharzen Hunderte“[3] in Wladiwostok

Tokio, 17. November. Ein aus Wladiwostok an Bord des deutschen Dampfers „Arcadia“ in Moji eingetroffener japanischer Kaufmann erzählt folgende Einzelheiten über die Unruhen in Wladiwostok: Die Empörer waren 40000 Mann stark. Unter ihnen befanden sich die Offiziere und Besatzungen der im Hafen liegenden beiden Kriegsschiffe. Sie steckten alle wichtigen Gebäude der Stadt in Brand, einschließlich des Geschäftshauses der deutschen Firma Kuntz & Alberts. Auf Dampfer, welche den Hafen zu verlassen suchten, schossen die Meuterer aus Maschinengewehren. Bei der Bedienung der Geschütze ereignete sich jedoch ein Unfall und infolgedessen gelang es der „Arcadia“ zu entkommen. Selbstverständlich ging der Brand nicht von den „Meuterern“, sondern von dem auf sie losgelassenen Polizeigesindel aus, wie in Kronstadt und überall.

Das Militär meutert auch in Harbin!

Aus London wird telegraphiert: London, 18. November. Nach Meldungen, die über Wladiwostok und Tokio hierher gelangt sind, ist eine Meuterei unter den Truppen in Harbin ausgebrochen, die schlimmer war als die in Wladiwostok. Die meuternden Soldaten plünderten und verbrannten Häuser und Staatseigentum und ermordeten viele Offiziere, welche die Ordnung mit Gewalt wiederherstellen wollten. Die Meuterer verübten unbeschreibliche Schandtaten und suchten ihre Opfer unter den europäischen wie unter den chinesischen Einwohnern. Die letzten Nachrichten, welche in Wladiwostok anlangten, meldeten, daß die Meuterei in Harbin noch im Gange sei.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 272 vom 19. November 1905.

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[1] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[2] Die 1901/1902 entstandene Partei der Sozialisten-Revolutionäre (Sozialrevolutionäre) vertrat die Interessen des Kleinbauerntums und hatte die Beseitigung des Zarismus und eine demokratische Republik zum Ziel. Zu ihren Kampfmitteln gehörten terroristische Anschläge. Später spaltete sie sich in einen linken und rechten Flügel.

[3] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.