Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 711

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tungen (Wolost ist ein Bezirk, der aus fünf bis zehn Dörfern besteht) und selbstbestimmende Bezirke, in denen Angehörige aller Stände gleichberechtigt sind, für eine Reform der Distrikt-, Gouvernement- und Provinzverwaltungen in dem Sinne, daß die Funktionen dieser Verwaltungen Semstwos übertragen werden, die auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt werden, für die Überführung aller Ländereien, die dem Staate, Adel, den Klöstern, den Kirchen und privaten Grundbesitzern gehören, in das Eigentum des Volkes mit der Bestimmung, daß das Land nur denen zur Benutzung überlassen wird, die es mit eigener Arbeit oder mit der Arbeit ihrer Familie bebauen. Die indirekten Steuern auf Gebrauchsgegenstände sowie die Akzise auf Streichhölzer, Zucker usw. müssen aufgehoben und durch die Einkommensteuer ersetzt werden. Alle Kinder beiderlei Geschlechts im Schulalter müssen Bildung auf Staatskosten erhalten. Zum Schluß wird die Befreiung aller Bauern verlangt, die infolge der Agrarunruhen gelitten haben.

Was die Bedingungen anlangt, unter denen der Grund und Boden in das Eigentum des Volkes überführt wird, so sollen sie nach der Ansicht des Büros des Bauernbundes durch die frei erwählten Vertreter des Volkes festgesetzt werden. Wie uns mitgeteilt wird, sind bereits ganze Tausende von Gemeindebeschlüssen, die im Sinne der oben dargelegten Forderungen gefaßt und mit Unterschriften versehen sind, in das Büro aus verschiedenen Gegenden Rußlands geschickt worden.“

Obige Mitteilungen sind hochwichtig. Der Agrarkommunismus steckt den russischen Bauern im Blute. Die aus Zentralrußland in den letzten Tagen eintreffenden Nachrichten über Massenerhebungen der Bauern zeigen, in welchem Umfang die kommunistischen Ideen in der russischen Bauernschaft vorhanden sind. Dem russischen Bauern ist der Begriff des Gemeineigentums auf Grund und Boden noch nicht fremd geworden, es sind erst einige Generationen verflossen, seitdem der russische Grund und Boden aus Eigentum der Gemeinde in Privateigentum verwandelt wurde. Den Hauptraubzug am Gemeindeland führte genau wie in England, Frankreich, Deutschland – in den letzten Jahrhunderten besonders in Ostelbien und Mecklenburg – der Adel aus, der die besten Ländereien in Besitz nahm. Auch bei der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland zu Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden genau wie bei der sogenannten Bauernbefreiung in Preußen vom Jahre 1810 die Bauern gründlich übers Ohr gehauen. Unter dieser Prellerei leidet noch heute der russische Bauer sehr schwer und jetzt glaubt er, daß die Stunde gekommen sei, um zurückzunehmen, was ihm in jahrhundertelanger Knechtschaft von seinen Herren gestohlen wurde.

Käme es je in Deutschland zu einer revolutionären Bewegung, wahrscheinlich würde diese im Osten der Elbe auch damit einsetzen, daß sie den Bauern und dem Tagelöhner das Herrenland, in erster Linie den Latifundienbesitz als Gemeinbesitz überlieferte. Eine agrarische Revolution wäre in Ostelbien leichter durchzuführen als irgend sonst wo in Deutschland. –

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