Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 712

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/712

Petersburg, 19. November. Die Bauernunruhen nehmen zu. Im Bezirk Stary-Oskol, Gouvernement Kursk, sind 17 Landgüter geplündert und in Brand gesteckt worden. Infanterie und Kosaken sind dorthin entsandt. Die Gouvernements Kursk und Pensa, wo gleichfalls Bauernunruhen vorgekommen sind, werden als im verstärkten Verteidigungszustand befindlich erklärt.

Die Herren Semstwo-Liberalen

Moskau, 19. November. Der Kongreß der Semstwos und Städte ist heute Nachmittag eröffnet worden. Zum Präsidenten wurde Petrunkewitsch gewählt, zu Vizepräsidenten Schepkin und Saweliew. Vertreten waren 26 Gouvernements und 39 Städte; aus Polen waren 23 Abgeordnete erschienen. Zuerst sprach Golowin und erklärte, das Manifest vom 30. Oktober[1] habe nicht alle Forderungen erfüllt, man müsse aber gegen die Anarchie kämpfen. Roberti führte aus, bei den Beratungen handele es sich darum, zu wissen, ob der Kongreß die Regierung unterstützen könne und unter welchen Bedingungen. Mehrere Redner, darunter der Bürgermeister von Saratow, Nemirowsky, bestanden darauf, daß man Witte[2] bei der Beruhigung des Landes helfen und alle Einzelheiten der Duma überlassen müsse. (!) Nemirowsky sprach von den Schrecken der Bauernunruhen (!) und sagte, das Heil beruhe allein in einem Zusammengehen mit Witte. Graf Heyden sagte, es sei notwendig, daß die Regierung sich nicht in Widersprüche verwickle. Man habe die Freiheit verkündigt und gleichzeitig den Belagerungszustand proklamiert und Generaladjutanten mit unbeschränkten Vollmachten ausgestattet. Es bedürfe allerdings gegenwärtig einer starken Machtentfaltung, aber einer solchen, die gut und auf das Gesetz gegründet sei. Solche zeitweiligen Gesetze, welche die Freiheit zu verwirklichen vermöchten, seien wichtiger als die Wahlrechtsfragen, welche durch die Duma ausgearbeitet werden würden. (!) Der Vertreter der Stadt Stawropol, Abramow, sprach sich gegen eine Besprechung mit Witte aus, da das Manifest vom 30. Oktober aufgehoben sei. Roditschew erklärte sodann, die Regierung begreife die Lage nicht und verstehe das Manifest vom 30. Oktober nicht; sie wolle nicht zugleich tatkräftig und gesetzlich vorgehen. Wenn die Regierung aber einer Stütze bedürfe, so müsse man ihr helfen, doch unter der Bedingung des feierlichen Versprechens, sich von der Reaktion zu trennen. Man müsse der Regierung helfen, das grundlegende Gesetz vom 30. Oktober zu verwirklichen; aber zuvor müsse die Regierung etwas leisten, was Vertrauen zu ihr erwecken könne.

Darauf wurde die Beratung auf morgen vertagt.

Die Bildung der bürgerlich-liberalen Partei

Dorpat, 19. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Hier ist eine Abteilung der baltischen Konstitutionspartei in der Bildung begriffen. In ihrem

Nächste Seite »



[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.