Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 626

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Odessa, 4. November. Auch im Laufe des gestrigen Tages dauerten die Ausschreitungen des Pöbels fort. Eine ganze Anzahl jüdischer Läden, darunter große Geschäfte in den zentralen Straßen, wurden geplündert; mehrere Fabriken vor der Stadt sind niedergebrannt. Die Hospitäler sind mit Verwundeten überfüllt. Es wurden auch wieder mehrere Personen getötet. Die Konsulate und Hotels werden von Truppen bewacht.

Auch aus Kischinjow, Nikolajew, Sewastopol, Rostow und Elisabethgrad werden schwere Ausschreitungen des Pöbels gemeldet, die sich hauptsächlich gegen die jüdischen Geschäfte und Häuser richten.

St. Petersburg, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Die Meldungen aus der Provinz klingen ruhiger. In Rostow, wo die Unruhen mehrere Millionen Schaden verursacht haben, ist der Bahnverkehr wieder aufgenommen. In Riga fand gestern eine Massenkundgebung statt, an der 150000 Personen teilnahmen.Von 34 Tribünen wurden in sieben Sprachen Reden über die Bedeutung des Manifestes[1] gehalten. Die Truppen werden mit Rufen: Es lebe die Armee! begrüßt. In Noworossisk ist der Eisenbahnverkehr wieder aufgenommen.

Die Amnestie

ist nun erlassen. Ein Telegramm meldet aus Petersburg, 4. November, 11 Uhr 24 Min. Die erlassene Amnestie umfaßt u. a. auch alle bis zum 30. Oktober gegen die Person des Kaisers oder gegen Mitglieder des Kaiserhauses verübte Verbrechen, sowie das Verbrechen der Teilnahme an zu Umsturzzwecken gebildeten Geheimgesellschaften.

Der Ukas zählt gewisse Kategorien politischer Verurteilte auf, die vollständig begnadigt werden; bei anderen zu schweren Strafen verurteilen Personen treten große Strafherabsetzungen ein; für politische Vergehen tritt vollständige Begnadigung ein.

Der Generalstreik wird fortgeführt!

Riga. Die Situation hat sich hier noch immer nicht gebessert. Ein gestern Abend abgehaltenes Volksmeeting beschloß, den Generalstreik fortzusetzen. Nunmehr haben auch sämtliche Apotheken geschlossen. Aus der Provinz laufen fortwährend beunruhigende Nachrichten ein.

Die Volksmiliz

Die „Russ. Korrespondenz“ meldet: „Freiwilliger Volksschutz“. Laut einer Mitteilung der „Nowoje Wremja“ [Neuen Zeit] soll sich in Rußland ein „freiwilliger Volksschutz“ gebildet haben, der aus ungefähr 100000 Mitgliedern besteht. Die Delegierten der Moskauer Abteilung dieses „freiwilligen“ Instituts haben unlängst den Zaren eine Adresse unterbreitet, in der sie ihren Dank für die Einrichtung der Reichs-Duma aussprechen und um die Annahme eines Heiligenbildes bitten.

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[1] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.