Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 178

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Und schließlich hatte es zur Folge, daß die Erörterung über die Taktik einen viel zu engen Rahmen hatte, daß sie Dinge, die notwendig mit der Taktik zusammenhängen und erst ein vollständiges Bild von den vorhandenen Differenzen geben, unberührt lassen mußte, weil sie nicht mit den Reichstagswahlen zusammenhängen. Und es wurde dabei eine einzelne Person in den Mittelpunkt der Erörterungen gestellt und mit einer Wichtigkeit umgeben, die ihr durchaus nicht zukommt. Es wurde das ja auch von einem Redner auf dem Parteitag gesagt; allerdings aus Erwägungen heraus, die wir uns durchaus nicht zu eigen machen können. Um eine „kleine Abweichung“ handelt es sich bei Heine ganz und gar nicht, sondern um eine ganz bestimmte, von ihm konsequent vertretene und begründete Anschauung; um wirklich opportunistische, possibilistische Anschauungen, die sicher nicht dadurch aus der Welt zu schaffen sind, daß Heine die beiden Fremdwörter verdeutscht und so die Harmlosigkeit seiner Richtung beweisen will.[1] Und Heine ist nicht bloß eine beliebige Person, sondern er ist trotz dieser offen vertretenen Anschauungen zum Reichstagskandidaten ernannt und auch zum Abgeordneten gewählt worden.

Die durch die gewählte Form notwendig gewordene enge Begrenzung der taktischen Erörterungen wird sich aber rächen; sie wird sich dadurch rächen, daß der Parteitag nicht nur einmal, sondern xmal über die Taktik zu reden gezwungen sein wird. Das zeigte sich schon bei der Fortsetzung der Verhandlungen. Der Punkt Reichstagswahlen wurde geschlossen, die Debatte über den Punkt Presse eröffnet und sofort war die Diskussion über die Taktik wieder da. Das ist ganz erklärlich. Das Bedürfnis zur Erörterung der vorhandenen Differenzen ist einmal als ein dringendes vorhanden, es beschränkt sich nicht auf die Reichstagswahlen und nicht auf die Person Heine, sondern erstreckt sich viel weiter. Wir werden deshalb die Erörterungen über die Taktik wiederkehren sehen beim parlamentarischen Bericht, bei der Zoll- und Handelsfrage, beim Koalitionsrechte, vielleicht auch noch bei dem Punkte Bergarbeiterschutz und schließlich auch noch bei dem Punkte Maifeier. Gelegenheit zur Anknüpfung bieten alle diese Punkte.

Hätten wir die Taktik als besonderen Punkt der Tagesordnung behandelt, dann konnte die Debatte darüber sich ausleben, alle in Frage kommenden Momente zusammenfassend behandeln, und die dabei unvermeidlichen scharfen Auseinandersetzungen wurden in diesem einen Punkte erledigt. Die Beratung der anderen Punkte blieb von diesen Auseinandersetzungen verschont und wurde, was sie sein soll, zum Teil kühle Geschäftserledigung, zum Teil wirksame Demonstration nach außen.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 232 vom 6. Oktober 1898.

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[1] Gemeint ist die „Kompensationspolitik“ von Wolfgang Heine, der in einer Rede am 10. Februar 1898 im 3. Berliner Reichstagswahlkreis die Auffassung vertreten hatte, die Sozialdemokratie könne der Regierung Militärforderungen bewilligen, wenn dafür „Volksfreiheiten“ gewährt würden. Ein solcher Kompromiß lief auf eine Revision des antimilitaristischen Kampfes der deutschen Sozialdemokratie hinaus.