Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 373

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Schergen während der jüngsten Demonstrationen ausgezeichnet. Und gerade der augenscheinliche Zusammenhang der an Sipjagin vollzogenen Exekution mit den jüngsten Ereignissen in Rußland gibt dem Attentat sein eigentliches politisches Relief.

Nach dem revolutionären Grollen, das in den letzten Monaten aus Rußland herübertönte, fällt nun der krachende Schuß, und allgemein wird die Frage laut: Ist das etwa wieder das Signal zu einer Epoche des systematischen revolutionären Terrorismus, wie jene erste, die dem Schuß Wera Sassulitschs im Januar des Jahres 1878 folgte?[1] Sollen wir eine Wiederholung des glorreichen Zweikampfes der sozialistischen Partei mit dem Absolutismus gewärtigen, wie man ihn zur Zeit der Narodnaja Wolja[2]4 in den 70er und 80er Jahren erlebt hat?

Vor allem steht es von vornherein fest, daß das jüngste Attentat nicht etwa eine Äußerung des planmäßigen Vorgehens der sozialistischen Parteien in Rußland ist. Wie meistens in solchen Fällen ist der Schuß auf den Minister des Innern ein einfacher Ausdruck der latenten revolutionären Energie, der allgemeinen Gärung und Aufregung besonders in den Kreisen der jungen Intelligenz, und es unterliegt keinem Zweifel, daß es sogar in gar keinem Zusammenhang mit den Arbeiterorganisationen vorgenommen worden ist.

Allein in der Resonanz, die dieser terroristische Anschlag findet, in der politischen Atmosphäre, in der er vorgegangen [ist], äußert sich die ganze tiefgreifende Umwälzung, die in Rußland in den letzten Zeiten vorgegangen ist.

Nachdem die revolutionäre terroristische Bewegung, von der Zar Alexander II.[3] weggeräumt wurde, um die Mitte der 80er Jahre zusammengebrochen war, begann in Rußland bekanntlich eine lange und qualvolle Periode des politischen Stillebens. Nach den zahllosen Opfern und Heldentaten der sozialistischen Partei war zuletzt das positive Resultat so gut wie gar keines. Freilich, die moralische Bedeutung der Periode der Narodnaja Wolja war eine ganz enorme, und man kann, trotz der ganzen Berechtigung nachträglicher Kritiken, diesen Versuch einer kleinen revolutionären Minderheit der Intelligenz, mit dem Absolutismus fertig zu werden, vom historischen Standpunkte ebenso wenig als einen „Fehler“ betrachten wie z. B. die Pariser Kommune. Wie hier war auch dort die Bewegung nicht aus kühler Berechnung, nicht aus politischer Spekulation, sondern mit Elementarmacht, mit ehernem historischen Muß, aus der Lage der Dinge hervorgegangen. Aber wie der Pariser Kommune ermangelte auch der sozialistische Terrorismus in dem Rußland der 70er und 80er Jahre der sozialen Grundlagen zum Siege über die absolute Gewalt. Das Bauerntum war, wie überall, eine politisch fast gänzlich passive Masse, die industrielle Arbeiterschaft war als Klasse erst im Werden begriffen (die Periode der eigentlichen Großindustrie be

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[1] Die russische Revolutionärin Wera Iwanowna Sassulitsch (1849–1919) verübte am 5. Februar 1878 in St. Petersburg das Attentat auf den Petersburger Stadthauptmann General F. F. Trepow.

[2] „Narodnaja Wolja“ (Volkswille) war 1879 als illegale revolutionäre Organisation aus der nach 1861 in Rußland entstandenen Bewegung der Narodniki/Narodowolzy (Volkstümler) hervorgegangen. Sie bildete sich nach der Spaltung von „Semlja i Wolja“ (Land und Freiheit). Die Ziele von „Narodnaja Wolja“ waren u. a. allgemeines Wahlrecht, Gewissens- u. Pressefreiheit, eine tiefgreifende Agrarreform, in deren Ergebnis das Land den Bauern übertragen werden sollte, die es bearbeiteten. Die Zeitung „Narodnaja Wolja“ erschien – mit Unterbrechungen – illegal zwischen Oktober 1879 und Oktober 1895 mit einer Auflage von 2000 bis 3000 Exemplaren. Den Sturz der Selbstherrschaft versuchte sie durch Taktik der Verschwörung und des individuellen Terrors zu erreichen. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881 wurde die Organisation zerschlagen.

[3] Zar Alexander II. erlag am 13. März 1881 einem Bombenanschlag.