Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 374

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ginnt in Rußland zusammen mit dem Hochschutzzoll im Jahre 1877) und die sogenannte Gesellschaft, das heißt die Bourgeoisie, in ihrer Masse dem Absolutismus ergeben und in ihrer intelligenten „liberalen“ Minderheit feige und keiner ernsten Aktion fähig.

So dauerte denn die tote Saison der unumschränkten Reaktion in Rußland nicht nur die ganze Herrschaftsperiode Alexanders III. hindurch,[1] sondern auch noch in den ersten Jahren der gegenwärtigen Herrschaft. Die Begleiterscheinungen bei der Thronbesteigung Nikolaus II. waren besonders geeignet, die innere Misere des russischen Liberalismus wie das unerschütterliche Selbstbewußtsein des Absolutismus in krassem Lichte zu zeigen.[2] Eine Reihe Landschaften (Semstwoi),[3] bekanntlich Sammelpunkte der liberalen Elemente des Zarenreichs, erdreisteten sich, dem Alleinherrscher ihre „alleruntertänigsten Bitten devotest zu Füßen zu legen“ (wörtlich), in denen sie nur zweierlei erflehten: daß das Gesetz (das Zarengesetz!) strikt gehandhabt und angewendet werde und daß die Landschaften das Recht bekommen, dem Zaren unmittelbar Bittschriften unterbreiten zu dürfen.

Auf diese erbärmliche politische „Aktion“ antwortete der junge Mann, der soeben den Thron bestiegen hatte, kurz und bündig: Die Herren von den Landschaften möchten ihre „sinnlosen Schwärmereien“ gefälligst unterlassen und das Maul halten. So endete die erste Regung der „Gesellschaft“, und es begann die schönste Fortsetzung des Regimes Alexanders III.

Aber die Windstille dauerte nicht lange. Im Januar 1895 sprach Nikolaus II. von „sinnlosen Schwärmereien“ und schon im Mai des nächsten Jahres, 1896, wurde ganz Europa überrascht durch die Kunde von dem Riesenstreik der Industriearbeiter in St. Petersburg.[4] Ein neuer Faktor des politischen Lebens war auf die Bühne getreten – das Proletariat. Im Jahre 1898 folgten stürmische Arbeiterunruhen in Jekaterinoslaw, und so durchzog die neu erwachte Arbeiterbewegung wie ein Gewitter ganz Rußland vom Norden bis zum Süden.

Das waren schon keine „alleruntertänigsten Bitten“ und keine „sinnlosen Schwärmereien“, sondern regelrechte Schlachten der Arbeitermassen mit der bewaffneten Macht.

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[1] Die Herrschaftsperiode von Alexander III. dauerte von 1881 bis 1894.

[2] Zar Nikolaus II. hatte bei seiner Thronbesteigung am 1. November 1894 in einem Manifest und auf einem Empfang von Vertretern der Semstwos erklärt, daß er die Grundfesten der Alleinherrschaft mit ebenso starker Hand schützen werde wie sein Vater Alexander III.

[3] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.

[4] Unter Führung des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse hatten im Sommer 1896 etwa 30000 Textilarbeiter in St. Petersburg gestreikt. Sie forderten die Bezahlung des Arbeitsausfalls an den Krönungsfeiertagen und Verkürzung der Arbeitszeit. Um die Ausweitung des Streiks zu einem Generalstreik zu verhindern, wurden die Forderungen der Arbeiter teilweise erfüllt und der Streik nach drei Wochen beendet.