Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 375

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Aber hier haben wir nur die erste Phase der heutigen Arbeiterbewegung in Rußland. Die Streiks und Unruhen tragen vorerst noch vorwiegend ökonomischen Charakter. Doch gerade in diesen ersten Explosionen reift das russische Proletariat politisch mit der merkwürdigen Rapidität, die revolutionären Perioden eigentümlich ist. Und seine Erscheinung auf dem Platze beeinflußt, rüttelt auch andere oppositionelle Elemente auf, gibt ihnen mehr Mut und Selbstvertrauen.

Die zweite, jetzige Phase, die der rein politischen Manifestationen, begann im März 1901.[1] Inauguriert durch studentische Unruhen in St. Petersburg, ruft sie bald die Arbeiterschaft wieder vor die Front – diesmal mit dem lauten Ruf: Nieder mit dem Zarismus! Den Märzdemonstrationen in der Hauptstadt folgen im Mai erneute in St. Petersburg, dann in Tiflis, in Kiew, in Odessa – überall.

Heute ist somit als vornehmste revolutionäre Kraft in Rußland das Proletariat aufgetreten, die Stelle einer kleinen Minderheit der Intelligenz hat die Arbeiterpartei eingenommen.

Kann und wird diese nun zur systematischen Anwendung des Terrorismus greifen, wie weiland die Narodnaja Wolja? Darüber sind die Meinungen im Lager der russischen Sozialisten verschieden. Während die eine dieser Gruppen die bewußte Anwendung der terroristischen Taktik für erwägenswert hält, erachtet Wera Sassulitsch und ihre Freunde den Terrorismus heute für direkt schädlich, weil er die politische Hauptaktion naturgemäß in die Hände einer kleinen Gruppe spielt, während sie unbedingt von der ganzen breiten Masse geführt werden müsse.

Wie dem aber sei, die Hauptrolle spielen heute in Rußland ganz zweifellos die Massendemonstrationen der Arbeiterschaft. Und wenn der Schuß auf Sipjagin eine politische Bedeutung haben wird, so vor allem die, ein kräftiger, für den Absolutismus empfindlicher Kommentar zu der allgemeinen Erregung zu sein, die, von den proletarischen Massen getragen, sich auf weitere Kreise der Bevölkerung verbreitet und dem Absolutismus zeigt: Diesmal wird die Revolution durch Repressalien, wie in den 80er Jahren, nicht aus der Welt zu schaffen sein. Die Zeiten sind andere, und ob mit oder ohne Terrorismus wird sich die wachgerufene politische Arbeiterbewegung nicht erdrosseln lassen, bis sie dem Absolutismus den Garaus gemacht.

Die letzten Nachrichten zum Attentat lauten: Petersburg, 16. April. Der Mörder des Ministers des Innern ist ein Student der Universität in Kiew namens Balmaschkow[2], welcher bei den letzten Unruhen relegiert worden war und sodann strafweise in das Heer eingestellt, bald darauf aber vom Kaiser begnadigt worden war. Der dritte der von dem Mörder abgegebenen Schüsse verwundete den Diener des Ministers, welcher auf den Angreifer zusprang und ihm die Waffe entwinden wollte. Der vierte Schuß ging in die Wand. Die letzten Worte des Ministers waren: „Warum ermordet man

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[1] Am 4. März 1901 hatte in St. Petersburg eine große Arbeiter- und Studentendemonstration gegen die reaktionäre Studentenpolitik der zaristischen Regierung stattgefunden. Polizei und Militär waren brutal gegen die Demonstranten vorgegangen.

[2] In der Quelle: Malyschew.