Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 926

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diese Taten sind wahrhaft geeignet, die besitzlosen Massen in höchstem Grade aufzureizen, und sie würden sicher zu Gewalttätigkeiten führen, wenn – ja, wenn eben nicht der vertiefende und klärende Einfluß der Sozialdemokratie wäre!

Der Staatsanwalt meinte, ich leugne durchaus den revolutionären Charakter meiner Jenaer Rede. Das ist ein vollkommener Irrtum. Ich habe revolutionär geredet und ich rede immer revolutionär, wie unsere ganze sozialdemokratische Agitation revolutionär ist. Aber nicht in dem Sinne der seltsamen Vorstellung des Staatsanwalts, der die Hamburger Krawalle auf die revolutionäre Wirkung der Sozialdemokratie zurückführt, sondern in dem Sinne, daß wir eine vollkommene, gründliche Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung anstreben. Und auch die Rolle der Gewalt negiere ich dabei gar nicht. Nur stehe ich mit meiner Partei dabei auf dem Standpunkt, daß die Initiative zur Anwendung der Gewalt stets von den herrschenden Klassen ausgeht, auf dem Standpunkt, den unser Lehrmeister Friedrich Engels im Jahre 1892 in der „Neuen Zeit“ präzisiert hat. Engels schrieb:

„Wie oft haben die Bourgeois uns nicht zugemutet, wir sollten unter allen Umständen auf den Gebrauch revolutionärer Mittel verzichten und innerhalb der gesetzlichen Grenzen bleiben, jetzt, da das Ausnahmegesetz gefallen, das gemeine Recht wieder hergestellt ist für alle, auch für die Sozialisten! Leider sind wir nicht in der Lage, den Herren Bourgeois diesen Gefallen zu tun. Was aber nicht verhindert, daß in diesem Augenblick nicht wir diejenigen sind, die ‚die Gesetzlichkeit kaputt macht‘. Im Gegenteil, sie arbeitet so vortrefflich für uns, daß wir Narren wären, verletzten wir sie, solange dies so vorangeht. Viel näher liegt die Frage, ob es nicht grade die Bourgeois und ihre Regierung sind, die Gesetz und Recht verletzen werden, um uns durch die Gewalt zu zermalmen? Wir werden das abwarten. Inzwischen: ‚Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren‘ Bourgeois!

Kein Zweifel, sie werden zuerst schießen. Eines schönen Morgens werden die deutschen Bourgeois und ihre Regierung müde werden, der alles überströmenden Springflut des Sozialismus mit verschränkten Armen zuzuschauen; sie werden Zuflucht suchen bei der Ungesetzlichkeit, der Gewalttat. Was wird’s nützen? Die Gewalt kann eine kleine Sekte auf einem beschränkten Gebiet erdrücken; aber die Macht soll noch entdeckt werden, die eine über ein ganzes großes Reich ausgebreitete Partei von über zwei oder drei Millionen Menschen auszurotten imstande ist. Die kontrerevolutionäre, momentane Übermacht kann den Triumph des Sozialismus vielleicht um einige Jahre verzögern, aber nur, damit er dann um so vollständiger und endgültiger wird.“[1]

Dies ist unsere Auffassung. Und nun bitte ich Sie zum Schluß, mich freizusprechen. Nicht weil ich mich vor einer eventuellen Gefängnisstrafe fürchte, gilt es, die uns von der herrschenden Justiz für unsere Überzeugungen zudiktierten Gefängnis-

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[1] Friedrich Engels: Der Sozialismus in Deutschland. In: Die Neue Zeit, X. Jg., 1891/1892, Erster Band, S. 583; MEW, Bd. 22, S. 251. Hervorhebungen durch Rosa Luxemburg.