Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 921

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gung abzuhalten und sie zu der Überzeugung zu führen, daß es dem Proletariat Rußlands eher geziemt, seinem westeuropäischen Bruder das Beispiel einer selbständigen Anwendung sozialdemokratischer Prinzipien in einer völlig neuen, revolutionären Situation vorzuführen und nicht beflissen die eigenen Schritte den ausgetretenen Schuhen der deutschen Bewegung anzupassen, die ausschließlich im Rahmen der ungestörten parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie aufgewachsen ist.

In ihrem grenzenlosen Vertrauen auf den „historischen Prozeß“ und dessen gute Vorsätze in bezug auf die Sozialdemokratie erzielen die russischen Genossen in Wirklichkeit Ergebnisse, die in Deutschland ganz und gar undenkbar und für jeden Sozialdemokraten unverständlich wären. Ein diesbezüglich charakteristisches Beispiel ist die Kiewer Versammlung im Mai dieses Jahres, in der die Gewerkschaft der Druckereiarbeiter gegründet wurde und in der sich der sozialdemokratische Redner gegen die Aufnahme der Bestimmung in die Satzung wandte, die da lautete, Ziel der Vereinigung sei die Verteidigung der Klasseninteressen der Arbeiter, und das mit der Begründung, der Begriff Klasseninteressen würde der Vereinigung einen „Parteianstrich“ verleihen: Der Kampf des Proletariats sei aber schon an sich Klassenkampf und sein sozialdemokratischer Charakter werde durch die Natur der proletarischen Bewegung bedingt. Dieser selbstlose Verehrer des historischen Prozesses berief sich im Besonderen auf die Erfahrung der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die Angeblich die „träge Masse“ der Arbeiterklasse zusammengefaßt habe – und das in einem Land mit Millionen sozialdemokratischer Wähler!

Angesichts dessen sollten die russischen Genossen besonders die jetzigen Reibungen zwischen den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in Deutschland in den Blick nehmen. Wenn sie sich etwas näher die unnormale Entzweiung ansehen, die sich auf Grund der „Neutralität“ der Gewerkschaften in den Reihen der deutschen Arbeiterbewegung ergeben hat, die künstliche Entfremdung der Gewerkschaften von der Sozialdemokratie und die gewaltigen Schwierigkeiten, die dieser Zwiespalt jedem Versuch einer größeren Massenaktion des deutschen Proletariats bereitet, dann können sie einen Vorgeschmack dafür bekommen, was für Früchte sie infolge der künstlichen Schaffung „neutraler“ Gewerkschaften, ohne „Parteianstrich“ und ohne das offene und bewußte Bekenntnis zum Prinzip des Klassenkampfes, in Zukunft in Rußland ernten werden. Die russischen Genossen können jetzt ihre zukünftigen eigenen Rexhäuser voraussehen, die den Buchdruckerverein eifrig vor dem „Terror der Herren Sozialdemokraten“ schützen; ihre eigenen Leimpeterse, die den weltweiten Maifeiertag der Arbeiter als „tote Mähre“ verspotten; und ihre eigenen Bringmänner, die eine „neue Theorie“ der Gewerkschaften, unabhängig von der Klassenkampftheorie, schaffen wollen.[1]

Wenn die Wogen der revolutionären Flut abgeflacht und die unansehnlichen felsigen Umrisse der „normalen“ Klassenherrschaft bourgeoiser Klassen hervorgetreten

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[1] Ludwig Rexhäuser, Johann Leimpeters, August Bringmann waren Funktionäre der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die sich in Polemik gegen die Linken auf sozialreformerische Auffassungen versteiften.